»Ich vermute, ja. Für mich war der Fall damit erst einmal abgeschlossen. Bis zum - Moment, November. Da hatte ich einen Kaufinteressenten an Land gezogen, und als ich einen Besichtigungstermin vereinbaren wollte, ging niemand mehr ans Telefon. Schließlich bin ich hingefahren. Das Haus stand leer und verlassen und die Nachbarn behaupteten, die Zinnecks seien schon Ende September fortgezogen.«
»Ohne Piep und Kommentar?«
»Ohne. Weg, einfach abgedampft.«
»Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Nein. Warum auch? Der Eigentümerin und mir war kein Schaden entstanden. - Schön und gut, die Schlösser mussten ausgewechselt werden aber wenn jemand das Weite suchen will - ich beziehe kein Gehalt vom Einwohnermeldeamt.«
»Woher dieser Zinneck kam, wissen Sie nicht?«
»Nein. Er sagte damals, er wohne in München, auch möbliert, seine Firma neige zu sehr spontanen Entschlüssen.« Weil Rogge eine Grimasse schnitt, fügte der Makler trocken hinzu: »Und die Firma hat er auch nicht genannt.«
»Na dann vielen Dank, Herr Pelzer.«
Auf dem Einwohnermeldeamt füllte Rogge Vordrucke aus, gab als Grund an: Geschiedener Schwager, besorgte sich Gebührenmarken und erfuhr, was er schon vermutet hatte. Hans und Charlotte Zinneck hatten sich nicht an- oder abgemeldet. Aus dem Nichts aufgetaucht, ins Nichts verschwunden. Bis sie allein als Inge Weber wieder die Bühne betrat.
Zumindest hatte Rogge ordentlich eingekauft.
Im Hotel ließ man ihn ziehen, nicht gerade begeistert, aber offenbar lief das Geschäft gut, man würde sein Zimmer noch vermieten können.
Frau Staatsanwältin gab ihm das Briefchen zurück und musterte ihn ironisch: »Der einsame Wolf zieht allein durch die feindliche Steppe?«
»Du solltest weniger Hesse und mehr Savidny lesen.«
»Dazu komme ich gar nicht. Aber ich hätte ein Viertelstündchen Zeit für eine interessante, spannende Geschichte aus dem prallen Leben.«
»Tut mir Leid, die Viertelstunde musst du meditieren.«
»Schon verstanden.« Sie war nicht beleidigt, eher besorgt: »Du bist in eine große Sache gestolpert?«
»Groß - ja. Aber nicht gestolpert, sondern geschickt worden, wie ich fürchte. Und das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht«, erwiderte sie trocken, drehte ihn an den Schultern herum und schob ihn zur Tür: »Pass auf dich auf!«
XIV.
Der junge Mann zappelte vor Ungeduld und Reineke musste sich beherrschen, um ihn nicht anzubrüllen.
»Also, noch einmal der Reihe nach!«
»Nachmittags hat sie sich in Kassel, im Hotel Merkur, ein Zimmer genommen. Abends ist sie in die Hotelbar gegangen und dort mit einem Mann ins Gespräch gekommen.«
»Zufällig? Oder waren die beiden verabredet?«
»Glaube ich nicht. Sie hatte schon ganz nett getankt, als er sich auch an die Bar setzte. Allerdings haben sie eine ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt, deswegen haben wir uns für den Mann interessiert.«
»Ja, und?«
»Er heißt Rogge, Jens Rogge, und ist Kriminalhauptkommissar.«
Der junge Mann glühte vor Stolz und Reineke lachte ungläubig: »Rogge kenne ich. Das ist ja 'nen Ding!«
»Deswegen bin ich auch sofort zu Ihnen gekommen.«
Das hättest du auch telefonisch erledigen können, dachte Reineke zynisch, aber du wolltest dir deinen Orden persönlich abholen. Laut sagte er: »Sehr gut. Nur eine Frage noch - haben die beiden die Nacht zusammen verbracht?«
Wie ein angepikster Luftballon sackte der junge Kollege zusammen und flüsterte verschämt: »Das wissen wir leider nicht.«
»Schade. Aber trotzdem - gute Arbeit.«
Den ganzen Abend grübelte er, ob er Jockel Pertz im BND anrufen sollte. Das Fernsehprogramm ödete ihn an, seine Freundin schwang auf ihrem Frauenabend wahrscheinlich wilde Reden über die ins Stocken geratene Emanzipation des ausgebeuteten Geschlechts und er öffnete die zweite Flasche Wein, Solange Pertz es nicht für nötig befand, mit mehr Details überzukommen, brauchte er von dem Treffen Karin Tepper-Jens Rogge auch nichts zu erfahren. Dazu war noch immer Zeit.
Freitag, 29. September
Punkt acht Uhr bewunderte Rogge die Haustür, ein Prachtstück mit Schnitzereien und ausgemalten Flächen, alles sorgfältig restauriert und die erhabene Jahreszahl 1786 sogar vergoldet.
Allerdings bildete die Tür auch das einzige bewundernswerte Teil, das schiefe, schmalbrüstige Haus war heruntergekommen und musste dringend von Grund auf renoviert werden.
Rogge drückte auf den Klingelknopf und sah sich um, während er wartete; kein Mensch weit und breit, Stockau schien wie ausgestorben. Doch dann polterten drinnen Schritte, ein Schlüssel quietschte im Schloss und eine völlig verblüffte Gertrud starrte ihn an.
»Guten Morgen, Gertrud«, grüßte er.
»Herr Rogge!«, stotterte sie.
Wahrscheinlich hatte Rogge sie aus dem Bett geholt; sie trug riesige Puschen mit Max- und Moritz-Gesichtern und einen Morgenmantel.
»Tut mir Leid«, entschuldigte er sich zerknirscht. »Ich hab Sie geweckt, nicht wahr?«
»Ja, aber das macht nichts, der Wecker klingelt gleich.«
»Darf ich hereinkommen? Aber nur, wenn Sie allein sind.«
»Was? - Ja, sicher, natürlich. Kommen Sie.«
Die Treppe war steil und schmal und knarrte unter ihrem Gewicht, er hielt sich am Geländer fest und registrierte unbehaglich, dass es schwankte. In dem winzigen Flur konnte man sich kaum umdrehen, den größten Teil nahm eine Bank mit Blumentöpfen ein.
»Bitte!« Sie lächelte etwas verkrampft.
Das Wohnzimmer war klein und für seinen Geschmack etwas zu farbenfroh eingerichtet.
»Darf ich Ihnen - trinken Sie einen Kaffee?«
»Gerne, aber nur, wenn Sie ihn nicht extra für mich kochen.«
»Nein, nein, ich muss auch noch frühstücken.«
Zehn Minuten ließ sie ihn allein, er hörte sie in der Küche und im Bad rumoren, und als sie ein Tablett hereinbalancierte, hatte sie sich angezogen. Er sprang auf, um ihr zu helfen, doch sie wehrte mit der alten Lebhaftigkeit ab: »Also, ich glaub, das kann ich besser als Sie.«
Der Esstisch reichte gerade für zwei Personen. Seine Wohnung war ja auch kein Palast, aber in dieser Enge würde er keine Luft bekommen.
»Vielen Dank für Ihre Grüße«, sagte sie und goss die Tassen voll.
Grüße? - Ach, richtig, ja. »Wie geht’s Angi?«
»Gut. Sehr gut sogar.« Schwungvoll setzte sie sich und strahlte ihn an. »Sie hat Olli vor die Tür gesetzt.«
»Endlich.«
Sie beugte sich vor: »Als Wirt ist er ja nicht schlecht, aber als Ehemann - puh.«
Rogge musste sich zusammenreißen, um Gertrud nicht in den großzügigen Ausschnitt zu schielen.
»Und wie geht’s Michael?«, zwinkerte er und sie reckte halb würdevoll, halb stolz das Kinn: »Auch gut, danke.«
»Das freut mich.«
Der Kaffee war stark und aus Höflichkeit nahm er sich eine Scheibe Brot; gefrühstückt hatte er schon