Gegen neun Uhr setzte sich ein grauhaariger hagerer Mann mit einem langen zerfurchten Gesicht und einem energischen
Kinn neben sie, der die asiatische Bedienung anstarrte, als wollte er sie auffressen. Aus Langeweile hatte Karin ihn beobachtet. Nach dem ersten Bier schien er sich zu entspannen, er fischte ein völlig zerknülltes Zigarettenpäckchen aus einer Jackentasche und fluchte leise, als sein Feuerzeug nicht funktionierte. Dabei drehte er den Kopf und funkelte Karin so grimmig an, als sei sie an allem schuld und ganz besonders an seinem defekten Feuerzeug.
»Brauchen Sie Feuer?«, fragte Karin freundlich.
»Ich hätte nichts dagegen«, schnappte er und jetzt musste sie lachen.
»Ist was?«
»Nein, aber Sie scheinen sich zu wünschen, irgendeinen armen Menschen in der Luft zerreißen zu dürfen.«
»Durchschaut. Ich könnte vor Ungeduld brüllen.«
»Und warum tun Sie es nicht?«
»Hier? In der Bar?«
»Schlimmer als diese Dudelmusik wird es auch nicht klingen.«
Einen Moment lauschte er, dann grinste er unvermittelt breit: »In der Tat. Wenn ich jetzt Ihr Feuerzeug einen Moment haben dürfte ...«
Das zweite Bier schluckte er langsamer.
In der Tat, du meine Güte, wann hatte sie diese Wendung zum letzten Mal gehört? Sie bestellte ihr drittes Glas und druckste ein wenig herum: »Was hat Sie denn so verbittert?«
Einen Moment überlegte er, bevor er die Achseln zuckte: »Muss ich darauf antworten? Die Wahrheit kann und darf ich Ihnen nicht sagen und belügen möchte ich Sie nicht.«
»Oh!«, staunte sie. »Sind Sie ein altmodischer Mensch?«
Daraufhin musterte er sie gründlich, aber nicht erzürnt, eher erheitert. »Das auch.«
»So was gibt’s also noch.«
»Wir sterben aus«, vertraute er ihr an. »Und wenn die Lücke bemerkt wird, die andere schnell schließen, murmelt einer was von Wertewandel oder schnelllebiger Zeit.«
»Auch ein Nachruf! Was machen Sie denn beruflich?«
»Was schätzen Sie?«
»Pfarrer«, riet sie übermütig.
»Falsch.«
»Arzt.«
»Leider nein.«
»Dann weiß ich nicht - halt, Schriftsteller.«
»Auch nicht. Ich bin Kriminalbeamter.«
»Nein!«
»Doch. Ein richtiger Beamter und Bulle.«
»Mich laust der ... hm.« Vor Verlegenheit musste sie schnell trinken und jetzt amüsierte er sich über sie: »Und Sie? Was treiben Sie, um die täglichen Brötchen zu verdienen?«
»Im Augenblick gar nichts. Ich reise herum, langweile mich, besuche alte Schulfreundinnen und überlege, wie ich die Zeit totschlagen kann.«
»Geht das schon lange so?«
»Nein. Es wird auch nicht mehr lange dauern.«
»Na prima. Ich heiße übrigens Rogge, Jens Rogge.«
»Freut mich. Karin Tepper.«
Er zwinkerte ihr zu und sie griff wieder rasch nach ihrem Glas. Eigentlich ein ganz netter Kerl. Vor allem nicht aufdringlich. Aber in eine Bar passte er nicht, nein, ganz und gar nicht.
Ob ihrer Hellsichtigkeit musste sie kichern, denn er dozierte ernsthaft: »Eine Bar ist ein scheußlicher Ort. Man trinkt, ohne Durst zu haben, hängt herum, weil man das dumpfe Gefühl hat, fürs Bett sei es noch zu früh, und fragt sich die ganze Zeit, ob man nicht was Vernünftigeres tun könnte.«
»Sie sprechen mir aus der Seele«, versetzte sie schnell. Wie alt mochte er sein? Keine Ahnung, und wunderschön, dass es gar keine Rolle spielte. Ein Mann, mit dem man sich unterhalten konnte und der nicht im Traum daran dachte, auf den freien Hocker neben ihr zu rücken. Das Glas war schon wieder leer.
»Die haben hier ein tolles Getränk«, sagte der Mann nun.
»Wirklich? Wie heißt das?«
»Kaffee.«
»Igittigitt.«
»Doch, schmeckt fast noch besser als das, was Sie da eben getrunken haben. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
»Es ist mir eine Ehre.«
Er hatte sie vor dem Absturz gerettet, und als sie später würdevoll aufstand und sich verabschiedete, blieb er ganz ernst.
Als sie am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, stockte sie. Rogge saß in der Halle, las Zeitung und hatte sie natürlich sofort gesehen.
»Guten Morgen, Frau Tepper. Wie geht's Ihnen?«
Sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg: »Danke, gut.«
»Fein, das freut mich.«
Sie holte tief Luft: »Ich muss mich noch bei Ihnen bedanken.«
»Wofür?«
»Wenn Sie mir den Kaffee nicht spendiert hätten ...«
»Ach, dann hätten Sie jetzt einen kleinen Brummschädel, aber die Welt wäre nicht untergegangen.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte sie düster.
»Vielleicht sehen wir uns heute Abend wieder.«
Das musste sie Brigitte unbedingt erzählen. Ausgerechnet ein Kriminalpolizist!
Donnerstag, 28. September
Pelzer gab Rogge den Dienstausweis zurück und betrachtete ihn aus schmalen Augen: »Sie sind nicht von hier.«
Gegen Makler hatte Rogge etwas und am liebsten hätte er den Mittfünfziger grob angetönt, aber nach einer schnellen Musterung verzichtete er darauf; der Knabe sah nicht so aus, als ließe er sich einschüchtern.
»Nein. Wir suchen Hans Zinneck, er wird dringend als Zeuge benötigt. Als Entlastungszeuge, den die Verteidigung zu spät benannt hat, nun drängt die Zeit.«
»Und warum ist der Verteidiger nicht unterwegs?«
»Der denkt nicht dran, der erklärt dem Vorsitzenden lieber, die Kripo habe schlampig gegen seinen Mandanten ermittelt, nicht einmal die von der Verteidigung benannten Entlastungszeugen herbeigeschafft.«
»Der Trick ist nicht neu, aber immer wieder gut«, brummte Pelzer zustimmend. Auf seinem Schreibtisch hatte eine Hängemappe gelegen. Pelzer setzte eine Lesebrille auf und blätterte in der Akte.
»Tja, ich weiß nicht, ob es Ihnen hilft, Herr Rogge. Herr Zinneck war Anfang Mai vorigen Jahres hier. Ziemlich aufgelöst, seine Firma hatte ihn für sechs Monate nach Kassel versetzt und er suchte dringend etwas, eine Wohnung oder ein Haus, am liebsten möbliert.«
»Nur für sechs Monate?«;
»Ja, so hat er gesagt. Eigentlich sollte ich das Haus verkaufen, aber die Eigentümerin, eine alte Dame, hatte etwas unrealistische Preisvorstellungen, na schön, sie war mit sechs Monaten Vermietung einverstanden. Aber die Miete im Voraus.« Er schnaubte grimmig. »Am liebsten bar.«
»Das gibt’s noch?«
»In meinem Gewerbe