Um die Zeit totzuschlagen, lief Rogge auf der Landstraße zurück, ärgerte sich über die vielen Autos und bog dann in eine schmale Seitenstraße ein, die laut Hinweisschild zum Deneckerhof führte. Die Steigung war beachtlich, doch auf der Kuppe wurde man mit einem schönen Blick in ein Seitental belohnt, an dessen Ende Rogge hinter hohen Bäumen gerade noch einen Fachwerkbau erkennen konnte. Rechts lag die Schäferhütte, wie der Hauptkommissar vermutete, obwohl der Ausdruck Hütte nicht zutraf. Zwar gab es ein kleines Fachwerkhäuschen, aber auch zwei scheunengroße Gebäude, bis zur halben Höhe gemauert, darüber aus Holz gebaut. Die früheren Ställe? Das ganze Anwesen machte einen verlotterten, verlassenen Eindruck. Gemütlich schlenderte Rogge daran vorbei. Es passte zu Benno.
Auf dem Rückweg bemerkte er, dass die Dachfirste der Hütte und der Ställe etwas tiefer lagen als die Kuppe der Anhöhe. Also wind- und sichtgeschützt.
Mittlerweile kannte Rogge viele Gäste vom Sehen und um den einzigen Unbekannten, einen jungen Mann zweite Hälfte zwanzig, kümmerte sich Gertrud so angelegentlich, dass er grinsen musste. Ihre roten Ohren verrieten alles.
»Wie heißt er denn, Gertrud?«, flüsterte Rogge und sie seufzte: »Michael.«
Da hatte der Blitz gezündet, es brannte lichterloh.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbargen sie sich in dem Dorf. Es schien ausgestorben zu sein, nur in zwei Häusern war Licht, die anderen halb eingestürzten Gebäude lagen im Dunkel, die Straßenlaternen funktionierten wohl schon lange nicht mehr. Kein Hund bellte, keine Katze miaute. Es roch nach Verfall, als ob hier nie Menschen gelebt hätten. Nach dem letzten großen Oder-Hochwasser waren viele weggezogen.
Ellwein schauderte und der Grenzschutzoffizier betrachtete ihn herablassend. An die Einsamkeit hatten sie sich gewöhnt, auch an diese merkwürdige Stille, in der alle Geräusche auf Kilometer deutlich zu vernehmen waren. Nicht einmal die Blätter raschelten und das Oderwasser floss lautlos.
Auch so ein Schreibtischstratege, der längst von der Realität abgehoben hatte. Warum Ellwein sich seinem Trupp angeschlossen hatte, wusste der Offizier nicht so genau, das BGS-Gebietskommando hatte einen Besucher vom Bundesnachrichtendienst angekündigt und den dienstlichen Befehl übermittelt, ihm alle technischen Geräte im Einsatz vorzuführen, falls nötig und möglich. An welchem Fall der Mann arbeitete, wollte man dem Grenzschützer nicht verraten; das war ungewöhnlich, aber hier an der deutsch-polnischen Grenze würde noch viel Wasser die Oder hinunterfließen, bis man von normalen Verhältnissen ausgehen konnte.
Hinter der Scheune stand ein Unimog. Die Mannschaft hatte auf der Ladefläche einen Mast hochgeklappt, der an der Spitze eine riesige Halbkugel aus festem Kunststoff trug, die Öffnung zur Oder gerichtet, die knapp einen Kilometer entfernt lag. In der Mitte der Halbkugel war eine kleinere Halbkugel montiert, bestückt mit zwei empfindlichen Mikrofonen. Kabel verbanden sie mit einem anderen Unimog, auf dem sich die batteriegespeisten Verstärker mit den vielen elektronischen Störfiltern befanden. Während der Fahrt hatte der Oberleutnant mit lässigem Stolz erklärt, dass sie mit diesen Fernmikrofonen hören konnten, wenn auf der anderen Seite des Flusses Ruder in das Wasser tauchten, vorausgesetzt natürlich, Wind und Wellen spielten ihnen keinen akustischen Streich.
»Falls doch - was tun Sie dann?«
Ach du meine Güte, ein Anfänger. Es gab Restlichtverstärker. Infrarotnachtsichtgeräte. Transportable Radargeräte. An einigen Stellen, die von den Schleusern bevorzugt wurden, hatten sie auf dem Flussgrund Kabel verlegt, die jede Veränderung des Magnetfeldes, etwa durch ein darüber fahrendes Boot, registrierten. Ja, sie maßen so genau, dass sie inzwischen Vorhersagen konnten, was sich da näherte, ein Holz- oder Metallboot, groß oder klein. Und wenn die Polen mitspielen und ihnen eines Tages erlauben würden, die Kabel auch auf der polnischen Hälfte zu installieren ... Na ja, man durfte ja wohl noch träumen. Mit dem Schleusen wurde viel Geld verdient, wahrscheinlich schon mehr als durch Drogenhandel und -transport.
»Ernie, es geht los!« Der Mann mit den Kopfhörern hatte in normaler Lautstärke gesprochen, trotzdem schrak Ellwein zusammen, als sei eine Bombe explodiert.
»Und wo?«
Auf dem Mast bewegte sich die Halbkugel ganz langsam.
»Planquadrat 11-26.«
»Die alten Buhnen. Auf geht’s!«
Die Männer bewegten sich geschickt und sicher durch die Dunkelheit. Dunkle Uniformen, dunkle Sportschuhe, die Gesichter geschwärzt.
»Kein Geräusch!«, mahnte der Oberleutnant. »Bleiben Sie dicht hinter mir!« Er steckte sich den Knopfhörer ins Ohr und schaltete das Funkgerät ein.
Die nächste Viertelstunde wuchs sich zu einem Albtraum aus. Ellwein hätte nie geglaubt, dass es so finster sein könnte, dass man wortwörtlich seine eigene Hand vor den Augen nicht sah. Und in dieser schwarzen Hölle hasteten die Männer, als trainierten sie Langstreckenlauf. Den Grund für die Eile hatte ihm der Oberleutnant voller Erstaunen über so viel Naivität dargelegt: »Ja, was denken Sie denn? Die beobachten seit heute Mittag unser Ufer. Eine ungewöhnliche Aktivität, ein Mensch, den sie nicht kennen, und das Übersetzen wird um 24 Stunden verschoben. Oder an einen anderen Ort verlegt.«
Natürlich, das hätte Ellwein sich selbst sagen können, aber das tröstete nicht über die Bäume und Sträucher, den unebenen Boden, die Löcher und Rinnen hinweg. Erst aufwärts, das musste der Deich sein, dann abwärts. Nach drei Minuten stachen Ellweins Lungen, er keuchte wie ein Blasebalg und der Oberleutnant drehte sich ungehalten nach ihm um, sagte dann aber doch nichts. Dabei schleppten die anderen Männer noch jeder ein Ausrüstungsstück, Scheinwerfer, Akkus, Handschellen, Fotoapparate, Stricke, Netze. Und natürlich ihre Waffen, mit denen sie die illegalen Einwanderer, die viel Geld für diese Reise in das gelobte Land zusammengekratzt hatten, einschüchtern konnten. Oder gegen die Schlepper benutzten, die sich mehr als einmal den Weg zurück über die sichere Grenze freigeschossen hatten; schließlich wussten diese Leute sehr genau, was auf dem Spiel stand.
Kein Laut, nur das dumpfe Poltern der Sohlen; dann schimmerte ein hellerer Streifen auf, der Fluss, die Männer schwärmten aus, Befehle brauchten sie nicht, das war alles oft geübt. Der Oberleutnant warf sich zu Boden, hielt das Glas mit dem Restlichtverstärker vor die Augen und pfiff kaum hörbar vor sich hin.
»Da, schauen Sie mal!«, triumphierte er.
Auf dem flachen Glas leuchteten grünliche Konturen auf. Tatsächlich, ein Boot, nicht leicht zu erkennen vor dem unruhigen Hintergrund. Ellwein gab das Gerät zurück, sein Begleiter summte entspannt, hielt dann plötzlich etwas vor den Mund: »Trupp zwei auf die Buhne. Links halten, ducken.«
Es war nicht zu glauben, er brummte den Gefangenenchor aus Nabucco, brach plötzlich ab: »Licht!«
Keine zwei Sekunden später flammten zwei Scheinwerfer auf und tauchten die Szene in grelles Licht. Ein Boot hatte an der Buhne angelegt, ein Mann kniete auf den Steinen und hielt den Bug fest, während andere Männer eilig an Land sprangen, jetzt plötzlich innehielten, als sei ein Film gerissen.
»Na prima!«, lobte der Oberleutnant laut. »Das hat ja hingehauen.«
Die Truppe zwei erschien wie aus dem Wasser gestiegen an der Heckseite des Bootes, die Maschinenpistolen im Anschlag. Zehn Sekunden rührte sich niemand.
»Wir haben sie. Platt machen und Abmarsch zum Einsammeln.« Unendlich weit entfernt sprangen Motoren an, es war fast beängstigend, wie weit die Nacht den Schall trug. Plötzlich schnellte unten ein Mann hoch, raste in Zickzacksprüngen auf das Wasser zu, eine Maschinenpistole belferte einen kurzen Stoß, dann verschwand der Mann im Fluss.
»Los! Platt machen!«, brüllte der Offizier in sein Mikrofon und mit diesem Befehl brach die Hölle los.
Von allen Seiten stürmten dunkle Gestalten auf die immer noch Versteinerten zu, zwei oder drei versuchten dann doch zu fliehen, aber sie hatten keine Chance, wurden zu Boden gerissen und gefesselt. Die meisten wehrten sich nicht, wie