Im Bären war weniger Betrieb, als Rogge vermutet hatte; Olli zapfte in seiner gewohnten Stellung und warf ihm nur einen gelangweilten Blick zu. Von den jungen Leuten ließ sich keiner sehen und Gertrud wusste auch, warum: »Die sind alle zur Disko nach Herlingen.«
»Und Sie?«
Halb enttäuscht, halb wütend winkte sie mit dem Kopf Richtung Tresen: »Olli behauptet, er findet für Samstagabend keine Aushilfe.«
»Das tut mir Leid für Sie.«
»Lässt sich halt nicht ändern!«, schickte sie sich tapfer drein. In einer Disko würde sie mit ihrer Ausdauer und nicht zu bremsenden Energie Furore machen.
Keine Minute später durfte sie unter Beweis stellen, was sie leisten konnte. Eine Wandergruppe, an die vierzig Männlein und Weiblein, fiel ausgehungert und halb verdurstet in den Bären ein; Olli kratzte sich den Kopf und verzichtete auf seine Handstütze; nach einer Viertelstunde tauchte seine Frau auf und half Gertrud beim Aufträgen.
Die gute Laune der Fußfreudigen hob sich mit dem Bierverbrauch, der Lärm belästigte Rogge und deshalb verdrückte er sich.
Sonntag, 17. September
Die Wirtin sah müde aus und Rogge erkundigte sich, wie lange es denn gestern noch gegangen sei.
»Um Mitternacht kam endlich der Bus, da haben wir sie vor die Tür gesetzt. Einige haben aber hier übernachtet«, gestand sie.
»Au weia. Eine Frage hätte ich: Wie kommt man zum Scherkenhof?«
»Ganz einfach. Sie gehen die Brückenstraße hinunter und dann auf dem Weg immer geradeaus. Zu Fuß ist es allerdings eine gute Stunde.«
»Also ein schöner Spaziergang.«
Sie lächelte ihm zu, bevor sie ging. Ihre Vorliebe für hautenge Hosen und Oberteile irritierte Rogge. Wenn ihre melancholische Blässe nicht gewesen wäre, hätte man leicht auf falsche Gedanken kommen können.
Die Brückenstraße endete ziemlich abrupt vor einem Haufen Sand und Kies, seitlich führte tatsächlich ein Weg quer durch das Tal auf die Höhe zu. Der Himmel hatte sich bewölkt, Rogge schritt kräftig aus, weil die vereinzelten Windstöße kalt durch seinen dünnen Anorak bliesen. Auf beiden Hängen des schmalen Tals wuchsen Obstbäume mit niedrigen, breiten Kronen. Er marschierte an einer Herde Rinder mit schwarzem, fast samtigem Fell vorbei, die einschläfernd regelmäßig wiederkäuten und ihn mit friedlicher Neugier beäugten. Beete mit Gemüse, ein Kartoffelacker. Maisfelder, zum Teil schon abgeerntet. Dann zwei riesige Grasflächen, mit einem dünnen Maschendraht abgedeckt, auf denen sich Hunderte von braunen Hühnern tummelten. An einer Stelle war der winzige Bach zu einem flachen Becken aufgestaut, zwei gepflasterte Wege führten ins Wasser hinunter und zum ersten Mal in seinem Leben konnte Rogge Schweine bewundern, die freiwillig badeten. Es sah zu komisch aus.
Neben ihm hielt eine Radfahrerin an und grüßte freundlich: »Guten Tag.«
»Guten Tag.« Rogge deutete vergnügt auf die Schweine: »Man soll es nicht glauben.«
»Oh, da irren Sie, Schweine sind ausgesprochen reinliche Tiere, Sie müssen ihnen nur genügend Auslauf geben.«
»Gehören Sie auch zum Scherkenhof?«
»Ja. Wollen Sie auch dort hin?«
»Einer der Mitbewohner war so leichtsinnig, mich einzuladen. Johann Thelen.«
Sie grinste anerkennend: »Jo rührt überall die Werbetrommel. Ich heiße übrigens Marlies Ackeren.«
»Freut mich. Jens Rogge.«
Den Rest der Strecke schob sie ihr Rad. Er schätzte die Frau auf Ende zwanzig, sie hatte ein offenes, energisches Gesicht und schien gern zu lachen. Ohne Nachfrage erfuhr er, dass sie seit zwei Jahren auf dem Hof lebte, zuständig für die Buchführung und als Aushilfe im Laden tätig war, der heute freilich geschlossen hatte. Über ökologischen Landbau sprach sie sehr gelassen, es war eine Chance, solange man direkt vermarkten konnte und Kunden fand, die bereit waren, etwas mehr für die Produkte zu zahlen. Mit den Erträgen haperte es noch, wie sie freimütig erläuterte, und bis für jede Fläche die optimale Fruchtfolge gefunden war, würden noch ein paar Jahre mühevoller Experimente vergehen. Zudem hatte Bauer Scherken den lehmigen Boden mit seinen schweren Traktoren stark verdichtet, sie mühten sich noch ab, die Böden aufzulockern und eine stabile Bodenfauna aufzubauen.
»Wie ist der Bauer eigentlich auf die Idee gekommen umzustellen?«, forschte Rogge neugierig und Marlies Ackeren schnalzte deftig mit der Zunge: »Er hat einen Brunnen, einen Hausbrunnen. Der wird vom Gesundheitsamt des Kreises regelmäßig geprüft und beim letzten Mal hatten sie ihm verboten, sein eigenes Wasser zu trinken. Wegen zu hoher Nitratbelastung. Das hat ihm einen Stoß versetzt.«
»Verständlich«, murmelte er.
Schon in Sichtweise des Hofes lehnte Marlies Ackeren ihr Rad an einen Baum und führte ihn in die Felder. »Ich enthülle Ihnen jetzt unser größtes Geheimnis«, wisperte sie listig. »Das hier.«
Verständnislos schaute er sich um. Eine Art Hecke, ziemlich wild und verfilzt. Am Fuße der Sträucher und Büsche waren Steine auf gehäuft, wie ein kleiner Wall, dicht bewachsen mit allem möglichen Unkraut.
»Das hier?«
»Ja, genau.« Rogges hilfloses Gesicht bereitete ihr diebische Freude. »Unser Heimangebot für Insekten, Vögel und Nager. Garantiert nicht gespritzt, also giftfrei.«
»Und wozu das?«
»Damit sich hier wieder Tiere ansiedeln, die Bauer Scherken vorher systematisch ausgerottet hat. Tiere, die Schädlinge fressen, Schlupfwespen zum Beispiel.« Die junge Frau lief weiter und Rogge kam kaum mit. Nach dreihundert Metern blieb sie vor einer Gruppe von Bäumen stehen. »Sehen Sie? Wir lassen das morsche Holz einfach liegen und diesen abgestorbenen Baum fällen wir nicht. Ahnen Sie, warum?«
»Damit sich bestimmte Vögel Bruthöhlen hacken können.«
»Genau. Und dann für andere räumen. Was meinen Sie, wie Schleiereulen unter den Mäusen wüten. Noch Kraft in den Beinen?«
»Aber immer.«
Es machte ihr sichtlich Spaß, einen Zuhörer zu haben. Sie stapften quer über eine Wiese, die aussah, als habe hier eine Panzerkompanie exerziert, und sie bestätigte: »Unsere Schweine. Im nächsten Monat säen wir eine Mischung aus Gras, Klee, Luzerne und Wildgerste aus.«
Dann mussten sie stehen bleiben, weil der Boden vor ihnen feucht und sumpfig wurde. Der kleine Bach hatte Tümpel und Pfützen gebildet, an deren Ränder Weiden und Erlen sprossen, und aus den Steinen und Brettern, mit denen der Bach früher eingefasst war, »reguliert«, wie sie klagte, war eine Art Staumauer gebaut worden.
»Setzen Sie Fische aus?«
»Nein. Zumindest nicht in den ersten Jahren.« Sie runzelte missbilligend die Stirn. »Sie sind ein echter Städter.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wollen überall eingreifen, nachhelfen, etwas beschleunigen. Zur Ökologie gehört auch Geduld, die Natur weiß schon, was sie will.«
»Wenn man sich Geduld leisten kann«, grunzte Rogge.
»Da liegt der Hund begraben.« Marlies Ackeren seufzte tief. »Über Jahre weniger Erträge und mehr Handarbeit, wer kann das bezahlen bei diesem verrückten EU-Landwirtschaftssystem? Und dabei haben wir noch Glück, der andere Bauer im Tal hat aufgegeben und wir haben dessen Flächen dazupachten können. Wenn Sie zu aller Arbeit auch noch unter Nachbarn leiden, die dauernd meckern ...«
»Wie hat es Sie denn auf den Hof verschlagen?«
»Ich habe Gartenbau gelernt und nie genug gespart, um einen eigenen Betrieb aufzuziehen.«
»Und wie steht’s