»Nee, die haben im Moment andere Sorgen.« Sie kicherte schadenfroh. »In der Disko hat’s am Samstag gewaltig Zoff gegeben. Eine Schlägerei, die Bullen - äh, die Polizei ist angerauscht und hat mächtig zugelangt.«
»Meine Kollegen können sich auch eine nettere Samstagabend-Beschäftigung vorstellen.«
»Und ob! Einige von Bennos Brüdern werden kräftig löhnen müssen.«
»Warum war Benno nicht in der Disko?«
»Richterliches Hausverbot seit Monaten.« Sie nickte nachdrücklich.
»Und Andrea Wirksen? Geht die in die Disko?«
»Wenn sie einen Dummen findet, der für sie blecht — klar.«
Warum Rogge sich so plötzlich entschloss, wusste er selbst nicht: »Gertrud, wer ist der Liebhaber der Chefin?«
Sie tat nur so, als sei sie schockiert, und als Rogge spielerisch eine Faust unter ihr Kinn stupste, hob sie beide Hände: »Okay, okay. Ziegler heißt er. Der Lehrer.«
»Monikas Vater?« Damit hatte sie Rogge verblüfft.
»Ja. Monika darf nichts davon wissen, ach Gott, das gäbe ein Drama.«
»Aber Sie wissend doch auch.«
»Weil die Chefin zu dämlich ist, die Bettlaken richtig im Wäschesack zu verstauen. Und das Zimmer sieht morgens immer aus! Sie haben gestern wieder rumgetobt.«
»Ja.«
»Olli stört das nicht, der hat kein Interesse mehr an seiner Frau. Aber Monikas Mutter - o je, halten Sie bloß den Mund.«
»Versprochen.«
Düster starrte Gertrud auf ihre gefalteten Hände, die Fingerknöchel leuchteten weiß von dem Druck. »Manchmal widert mich der ganze Laden ziemlich an. Die saufen und lügen und huren herum und immer muss ich so tun, als wäre ich zu dämlich, bis drei zu zählen. Lange halte ich das nicht mehr aus.«
Eine Gertrud mit einem moralischen Kater war sehr ungewohnt, Rogge betrachtete sie schweigend. Warum suchte sie sich nicht eine andere Stelle? So tüchtig, wie sie war, musste sie doch überall etwas finden.
Sie spürte seinen prüfenden Blick: »Heute bin ich nicht die große Nummer, wie?«
»Nein, aber sympathisch wie immer.«
»Damit ist der Tag ja gerettet.« Es sollte burschikos klingen, aber es verunglückte total, sie merkte es und seufzte: »Dann machen wir mal Schluss für heute.«
Bokholt und Mähl hatten das Schießpulver nicht erfunden, das war Weinert von Anfang an klar gewesen, aber so dämlich stellten sich nicht einmal Amateure an. Parkten direkt vor der Villa und ließen sich von Schönborn und einem Kriminalbeamten überrumpeln. Dann kriegten sie natürlich das große Hosenflattern, fuchtelten mit Ballermännern herum und flohen wie die Hasen vor dem Hund. In einem Auto mit einem tauben Kennzeichen, das sich nur ein Dienst beschaffen konnte. Wenn der zweite Mann wirklich von der Kripo gewesen war, hatte er sich die Autonummer gemerkt. Und im Bestand recherchiert ... Immerhin war diesen Vollidioten auf gefallen, dass sich Schönborn und der Kripomensch abgesprochen hatten. Was eine zusätzliche Komplikation bedeutete: Schönborn würde also von dem tauben Kennzeichen erfahren. Zumindest mussten sie davon ausgehen. Und damit war ihre wichtigste Spur erledigt, verschüttet, verboten, verbrannt. Rückzug auf der ganzen Linie! Großartig! Warum nur lief in diesem verfluchten Fall alles schief?
Nach fünf Minuten stemmte Weinert sich hoch. Es nutzte ja nichts, er musste beichten, welchen Bock der Verfassungsschutz geschossen hatte. Hoffentlich war Reineke einigermaßen gut gelaunt.
Dienstag, 19. September
»Ich würde gerne noch bis Freitag bleiben«, sagte Rogge leise, als Angi den Kaffee abstellte.
»Ich freue mich, dass es Ihnen bei uns gefällt«, antwortete sie herzlich. »Das Zimmer ist frei.«
Die Bewölkung hatte sich verzogen, aber die Sonne wärmte nicht mehr so wie in der Vorwoche. Rogge verließ sich wieder einmal auf seine Wanderkarte. Allein zu laufen störte ihn nicht, er ordnete dabei seine Gedanken und fühlte sich frei, wenn er auf niemanden Rücksicht nehmen und keine Fragen beantworten musste.
Bis jetzt hatte er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dank Gertrud hatte Rogge zwar viel erfahren, und bevor er abreiste, musste er noch herausfinden, warum sie so schnell Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Aber seine Anwesenheit hatte niemanden wirklich aufgescheucht, obwohl er sicher war, dass Gertrud eifrig im Dorf verbreitet hatte, welchen Beruf er ausübte.
Auf der anderen Seite - die beiden Männer vor Schönborns Villa. Mit einem gefälschten Autokennzeichen und bewaffnet. Und die beiden Schüsse. Irgendeinem Menschen war er schmerzhaft auf die Füße getreten, aber Rogge hatte keine Ahnung, wem und wann. Zuletzt Simons Geheimniskrämerei. Also wohl doch kein Fall einfacher Amnesie. Schönborn würde nach der Samstagepisode schon dafür sorgen, dass Inge Weber geschützt wurde, um die Sicherheit der Dunkelblonden musste Rogge sich nicht den Kopf zerbrechen. Wenn - und das stand leider gar nicht fest - die beiden geflüchteten Knaben wirklich an der Person Inge Weber interessiert waren und nicht doch einen Bruch ausspioniert hatten.
Über Mittag stand Rogge in einer Schmiede und schaute zu, wie zwei Reitpferde beschlagen wurden. In der Volksschule hatten sie ein Lesebuch benutzt, in dem der Schmied noch schmiedete, der Müller mahlte und der Bauer hinter seinen Rössern fröhlich pfeifend schritt. Du meine Güte, wo war das alles geblieben! Die sentimentale Anwandlung gestand er auch dem jungen Meister, der ihn auslachte: »Es kommt alles wieder. Ich hab gut zu tun, wenn Sie Richtung Weltersmühle laufen, sehen Sie gleich zwei Reiterhöfe. Und drüben in Sickenbach wird ein Golfhotel gebaut.«
In Sickenbach kam Rogge mit einer alten Frau ins Gespräch, die im Heimatmuseum Spitzen klöppelte. »Nein, leben könnte ich davon nicht, aber die Rente besseres schon auf!« Bei den Preisen der ausgestellten Stücke schluckte Rogge trocken,
Der Rückweg führte ihn durch die Halterer Berge, hier wurde Wein angebaut und er kaufte sich für zwei Mark ein Faltblatt für den Weinlehrpfad. Dass der Tourismus eine Industrie war, wusste er, aber womit man den Besuchern Geld aus der Tasche zu ziehen vermochte, erregte seine widerwillige Bewunderung.
Im Bären war nichts los. Gertrud hatte ihr Stimmungstief überwunden und brauste im gewohnten Tempo zwischen Tischen und Tresen hin und her. Olli stützte sich mit einer Hand ab, strich sich über den Kopf und war mit den Gedanken weit weg. Die Krakeeler-Bank blieb leer. Doch gegen halb zehn kam Andrea Wirksen in die Gaststube und setzte sich an einen Tisch, Rogge konnte sie im Profil mühelos beobachten.
Sie bestellte ein Bier und einen Klaren und schüttelte sich, nachdem sie den Schnaps gekippt hatte, ihre mürrischverkniffene Miene hellte sich auf, als habe sie etwas heruntergespült, was sie bedrückt hatte. Sobald sie bei Gertrud bezahlt hatte, ging sie zum Tresen und redete auf Olli ein, der sie von oben herab unbewegt musterte und verächtlich die Nase rümpfte, als sie hüfteschwenkend den Bären verließ. Eine Viertelstunde später hinkte Benno Brockes in den Raum, unterhielt sich kurz mit Olli und verließ sofort wieder die Gaststube. Seine hohen Gummistiefel wirkten durch Lehm und Dreck wie gepanzert.
Gertrud lächelte grimmig, ihr entging nicht viel.
»Wo wohnt diese Andrea eigentlich?«
»In der Hauptstraße.« Eine Sekunde zögerte Gertrud, aber die Boshaftigkeit siegte über ihre Diskretion: »Da wird sie heute aber nicht schlafen.«
»Sondern wo?«
»Bei Benno.«
»Wo liegt denn diese alte Schäferhütte?«
»Halbwegs Herlingen. An der Straße zum Deneckerhof.«
In der Nacht blieb alles ruhig.
Mittwoch, 20. September
Den Tag vertrödelte Rogge in Herlingen.