Claire hatte sich wie ein Kätzchen an ihn geschmiegt. Die Wärme ihres Körpers hatte sich mit der seinen vereint. Er hatte bei ihr bleiben wollen und doch war er gegangen.
In diesem Moment hatte er all jenes besessen, von dem er vorher nicht gewusst hatte, dass es ihm fehlte und es achtlos weggeworfen.
Wird dieser Schmerz jemals vergehen?
Als sie im leeren Zimmer aufgewacht war, hatte sie nach ihm gerufen. Zunächst war sie durch die Wohnung gelaufen, dann liefen die Tränen über ihr Gesicht.
Lilu war, als läge ein tonnenschwerer Stein auf seiner Brust und quetsche ihm die Luft aus den Lungen.
Ist dies der Preis der Liebe? Er schluckte. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen und wieder neben ihr liegen könnte. Aber was würde ich damit erreichen? Wie soll ich ihr nur meine Gefühle offenbaren.
Es war undenkbar, einfach zu sagen: »Hey, weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe? Über Tage habe ich mich nachts in dein Zimmer geschlichen, nur um dich im Schlaf zu beobachten.«
Das hörte sich schon in seinen Ohren überaus verstörend an.
Ein Klingeln ertönte. Lilu und Claire zuckten im absoluten Gleichklang zusammen.
Claire eilte durch Lilu, der sich knapp außerhalb ihrer Wahrnehmung aufhielt, hindurch zur Tür. Ein Hauch von Hoffnung, flüchtig wie Morgennebel lag in ihren Augen. Sie riss die Tür auf und erstarrte.
Lilu erspähte den Werwolf, der vor seiner Liebsten stand. Es war keine jener zähnefletschenden Bestien, wie man sie aus alten Sagen kannte, sondern eine Version, deren Anblick wie eine Schokotorte mit Sahne und Karamellsoße wirkte.
»Süßes, sonst gibt’s Saures!«, knurrte das Mädchen und offenbarte ein Plastikgebiss mit Reißzähnen.
Rote Schminke formte ein Blutrinnsal in ihrem Mundwinkel, das wohl möglichst gruselig wirken sollte. Doch ihre allgemeine Kleidungswahl stand diesem Zweck diametral gegenüber. Der Haarreif mit den beiden Fellohren, die schwarz angemalte Nasenspitze und das rosa Petticoatkleid trugen nicht unbedingt dazu bei, der Kleinen mit den langen braunen Zöpfen ein monströses Aussehen zu verleihen.
»Ahhh, ein Werwolf.« Claires Stimme war noch vom vielen Heulen belegt, doch sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
Das Mädchen formte ihre Hände zu Klauen. »Harrr!«, knurrte es.
Der Augenblick zauberte ein Lächeln auf Claires Gesicht. Lilus Herz drohte zu zerspringen.
Verdammt, ich liebe diese Frau. Ich würde alles für sie tun. Irgendwie muss es doch mit uns klappen.
Er kannte ihre tiefsten Sehnsüchte und geheimsten Begierden.
Ich wäre der Mann, der hinter ihr steht, wenn sie Rückhalt braucht. Ich wäre jener, der neben ihr geht, wenn sie Gesellschaft benötigt. Ich würde mich ohne Zögern vor sie werfen, wenn sie Schutz bedarf. Das muss doch reichen, um sie für mich zu gewinnen.
Vor ihm hielt Claire dem Werwesen eine Schüssel voller Süßigkeiten hin. »Na, dann nimm dir mal was. Das hast du dir verdient.«
Und ich habe verdient, an deiner Seite zu sein.
Eine Idee brach mit der ungezügelten Kraft eines Vulkans aus seinem Innersten hervor. Lilu lächelte. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Ein Schmunzeln blitzte auf Claires Lippen auf, als die Werwölfin über den Gang zum Treppenhaus hüpfte. Die beiden Zöpfe wirbelten bei jedem Sprung wild durch die Luft. Die Kleine war zuckersüß.
Die Tür fiel ins Schloss. Claire sah die leere Wohnung vor sich. Tränen füllten erneut ihre Augen.
Dabei hatten wir uns doch so gut verstanden. Ihre Bekanntschaft vom ›Coffee Fellows‹ war schon vom Aussehen der Hammer gewesen. Dazu sein spezieller Humor, durchaus intelligent, wenn auch immer am Rande der Anzüglichkeit, der ihr Herz im Sturm erobert hatte. Noch gestern hätte sie es nie geglaubt, dass sie einmal einen Mann am Abend des ersten Kennenlernens mit zu sich nach Hause nehmen würde. Umso mehr hatte es sie geschmerzt, als sie heute Morgen in einem leeren Bett aufgewacht war.
Warum ist er verschwunden? Was habe ich falsch gemacht? Ich dachte, dass er mich wirklich liebt.
Die Türklingel ließ sie zusammenzucken.
Wahrscheinlich schon wieder Kinder auf der Jagd nach Halloween-Süßigkeiten. Was mich wohl jetzt erwartet? Eine Mumie, ein Vampir, ein Skelett oder gar ein Wandelwesen?
Claire öffnete, erstarrte, schrie auf und schlug instinktiv die Tür zu.
Sie hatte mit unzähligen Alptraumgestalten gerechnet, doch dieser Anblick hatte ihr Herz einen Schlag überspringen lassen.
Ein Klopfen erklang. »Entschuldigung!«, drang es gedämpft zu ihr.
In ihr tobte ein Wirbelsturm widerstreitender Gefühle. Er war am Abend einfach so wundervoll und ich habe mich so wohl bei ihm gefühlt. Aber dann lässt er mich einfach so sitzen und verschwindet im Dunkeln der Nacht. Jetzt steht er da draußen mit einem breiten Grinsen und einem Strauß Rosen, gerade so, als sei nichts gewesen.
Claire riss die Tür auf, verpasste ihrem One-Night-Stand eine schallende Ohrfeige und schlug die Tür wieder zu. »Du Arsch!«, keifte sie. »Verpiss dich.«
»And I would do anything for love. I’d run right into hell and back.« Die Töne klangen wie Fingernägeln, die über eine Schiefertafel kratzen. Trotzdem kamen ihr die Worte bekannt vor.
»Singst du gerade Meat Loaf?« Was soll das?
»Er kann besser ausdrücken, was ich für dich empfinde. Ich würde für dich bis in die Hölle und zurückreisen.«
Claire kniff die Augen zusammen, bis sie kaum mehr als schmale Schlitze waren. »Dann geh doch in die Hölle.«
»Da war ich schon, nachdem ich dich verlassen habe. Ich will lieber bei dir sein.«
»Und warum bist du dann einfach so verschwunden?«, fauchte Claire.
»Ich wollte mich echt nicht fortstehlen. Sorry.«
»Aha, da waren wohl ein paar Ninja, die dich unbemerkt aus meinem Schlafzimmer entführt haben, und du bist ihnen erst jetzt entkommen.«
Sie vernahm ein Seufzen. »Nein.«
»Und wer hat dich verschleppt?«
»Niemand.«
»Und warum bist du dann verschwunden?«
»Weil ich dich liebe.«
»Weil du mich liebst?« Claire riss die Augen auf und ihre Kinnlade fiel runter.
»Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, spukst du mir durch den Kopf. Ich kann nicht schlafen, kann nicht essen, denke nur noch daran, wie schön es ist, bei dir zu sein.«
»Aber du bist verschwunden.«
»Weil ich dich nicht verletzen wollte. Du weißt nicht, wer ich wirklich bin. Meine Gefühle für dich ängstigen mich.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Lilu atmete erleichtert auf. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.
Claire spähte zu ihm heraus. »Wovor hast du Angst?«
»Dass du mich zur Hölle schickst, wenn du erfährst, wer ich bin.«
Misstrauen umwölkte ihren Blick. »Das Risiko musst du wohl eingehen. Fangen wir ganz vorne an. Wie heißt du überhaupt?«
»Lilu.«