Als der Verfall an ihm unübersehbar wurde, schickte seine junge Gattin nach einem Arzt, und der ließ nichts unversucht, Chong Yin am Leben zu erhalten. Schnell musste er aber einsehen, dass nichts und niemand ihn mehr von der Schwelle des Todes zurückzurufen vermochten. Er war schon so abgemagert, dass nur noch die Haut seine Knochen bedeckte und er sich kaum mehr rühren konnte, so schwach war er inzwischen.
Und immer noch suchte ihn Qingmie des Nachts heim, sog seine ganze Lebenskraft in sich auf, als könnte sie dadurch selbst in die Welt des Lichts zurückkehren, und ließ nicht ein Fünkchen in ihrem verderbten Gatten zurück. Doch der bemerkte nichts davon, fiel wie ein hungriges Tier über die unbekannte Schönheit her, die ihn jede Nacht aufs neue mit ihren Reizen lockte, und versank in einem Strudel wilder Sinneslust. Ja, in ihrer Nähe war es leicht, selbst den Tod zu vergessen.
Nachdem auch der Arzt Chong Yin nicht hatte retten können, rief seine junge Gattin den Priester ins Haus. Wie der aber über die Schwelle der Türe trat, blieb er vor Entsetzen ganz erschrocken stehen. Sofort hatte er bemerkt, dass der Mann vom Hauch des Todes umweht war, und er beschwor ihn, von seinem Treiben abzulassen, bevor er ganz ins Verderben stürzen würde: »Sonst ist Euer Weg zum Tod nicht lang.«
Hätte Chong Yin noch die Kraft dazu besessen, hätte er wohl Reißaus genommen vor diesen unheilvollen Worten. So aber konnte er nur die Augen schließen und in seine Träume der ungezügelten Lust und der ungebändigten Leidenschaft flüchten, wo ihn schon die geheimnisvolle Schöne erwartete, um ihm auch noch das letzte bisschen Lebenskraft zu nehmen, das er ihr geben konnte. In seiner Entrückung wandelte ihn nicht einmal mehr die Angst an, und seine junge Gattin, der Arzt und der Priester konnten nur noch zusehen, wie sein Atem erstarb und er endgültig in die Welt der Schatten einzog.
Love Hurts
Lyakon
D
er Mond lugte scheu durch das Schlafzimmerfenster und tauchte den Raum in weiches Silberlicht. Seine samtenen Strahlen umschmeichelten die weiblichen Konturen des Körpers, der zwischen zerwühlten Laken lag.
Lilus Herz trommelte in Rhythmen wilder als die Tänze auf dem Voodoo-Festival in Benin, das er beinahe jedes Jahr besuchte. Ein Beben durchlief seinen Leib. Er biss sich auf die Unterlippe, um den Atem zu kontrollieren.
›Love hurts, Love scars‹, schoss ihm durch den Kopf. Weise Worte aus dem Mund der Everly Brothers. Wobei er die Version von Nazareth bevorzugte. Gleichwohl ihm bei letzteren die Namenswahl missfiel. Aber von der Musik her war das Cover von Nazareth um Längen besser als das Original.
Sein Blick wanderte zu Claire.
Lilus Mundwinkel hoben sich leicht, als er sie zwischen den seidenen Laken dort liegen sah. Selbst im Schlaf umspielte jenes schelmische Lächeln ihren Mund, das wirkte, als hecke sie gerade einen Streich aus. Dieser Anblick war es gewesen, der ihn verzaubert hatte. Ihm war, als stünde er unter einem Bann.
Seit er sie vor zwei Wochen zum ersten Mal erblickt hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wenn er abends erwachte, war es der Gedanke an sie, der ihn begrüßte, und wenn er sich morgens niederlegte, dann war sie es, deren Bild ihm den Schlaf raubte.
Sein Magen krampfte. Vor Tagen hatte er den Appetit verloren. Ihm war, als sei alleine ihr Anblick wie ein Biss in die süße Frucht der Versuchung. Seit er von ihr gekostet hatte, erschien alles andere fad.
Lilus Lächeln wurde breiter, als er die rhythmischen Bewegungen ihrer Augen sah. Sie träumte.
Ob sie von mir träumt? Der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Wie soll das möglich sein, wo sie mich überhaupt nicht kennt.
Schon in der ersten Nacht war er gleich eines Mondschattens zu ihr gekommen und lange vor dem ersten Sonnenstrahl verschwunden. Sie hatte seine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt. So hatte er es immer gehalten. Er war im Schutz der Dunkelheit eingedrungen, hatte sein Ding durchgezogen und sich aus dem Staub gemacht, ohne Spuren zu hinterlassen. Für die Opfer war er kaum mehr als ein besonders lebhafter Traum gewesen.
Das war ein so einfaches Leben gewesen. Jetzt ist aber dieser brennende Schmerz tief in meinem Herzen und plötzlich ist alles so kompliziert. Love Hurts, Love Scars.
Lilu presste die Lippen fest aufeinander. Seine Augenwinkel brannten.
Wie gerne wäre er einer jener Mondstrahlen, die so sanft über ihren Körper strichen. Könnte ich doch neben ihr liegen und die Wärme ihres Leibes an meinem spüren.
Lilu biss sich auf die Unterlippe. So kann es nicht weitergehen. Ich muss etwas ändern.
Claires Absätze klackerten wie die Kastagnetten eines tollwütigen Flamencotänzers auf dem Pflaster der Simeonstaße. Ihre Schultern schmerzten vom langen Tag im Büro. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits das warme Entspannungsbad in ihrer Wellnesswanne mit Massagedüsen vor sich. Das ist eine wirklich lohnende Investition gewesen.
»Achtung!« Unmittelbar auf den Warnruf erfolgte der Zusammenstoß. Sie stürzte, doch starke Arme fingen sie auf.
»Alles ok?« Die kernige Stimme vom Typ ›Vin Diesel‹ ließ sie an einen muskelbepackten Fitnessfanatiker denken. Ihr Kopf hob sich und sie erstarrte. Der Mann, der sie im Fallen aufgefangen hatte, erinnerte eher an ›Oberyn Martell‹ aus ihrer Lieblingsserie. Sie hatte Rotz und Wasser geheult, als der Seriencharakter so brutal ermordet worden war. Und jetzt stand er hier vor ihr, als sei er direkt einem ihrer Träume entsprungen.
»Entschuldigung«, hauchte sie ihm entgegen. »Ich war in Gedanken.« Ihr Blick traf auf warme Augen, deren Farbe sie an süße Vollmilchschokolade erinnerte. Auf seinen Lippen lag ein geheimnisvolles Lächeln.
Seit dem ersten Auftreten Oberyns in der Serie hatte sie sich gewünscht, auch einmal derart leidenschaftlich geküsst zu werden, wie ›Ellaria Sand‹ im Bordell von Königsmund.
Der Fremde half ihr auf die Beine. Er neigte leicht sein Haupt. »Eine Frau sollte sich niemals entschuldigen. Ich hätte besser aufpassen sollen. Jetzt ist mein ›Dark Forest Kiss‹ auf Ihrem Mantel. Dabei sollten Küsse doch andere Ziele finden.«
»Was?« Claire zog die Augenbrauen zusammen.
Er deutete auf ihren Mantel. Sie sah den Schalk in seinen Augen aufblitzen.
Ein Blick an ihr herab zeigte eine Mischung aus Kakao, Sahne, Schokoraspeln und einer einzelnen Amarenakirsche, die da gerade ihren Mantel hinabglitt.
»So heißt diese heiße Schokolade im ›Coffee Fellows‹. Es tut mir alles wirklich leid. Ich bestehe darauf, die Reinigung Ihrer Kleidung zu bezahlen. Zudem würde ich Sie gerne mit einem frisch zubereiteten Kuss entschädigen.« Er lächelte und offenbarte dabei kleine Grübchen.
Claire biss sich auf die Unterlippe. Ziemlich frech dieser Typ. Genau die Art von Mann, die sich nachts in ihre Träume schlich. Ein breites Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. »Na, dann nehme ich doch so einen ›Dark Forest Kiss‹. Wäre ja schade, wenn einzig mein Mantel in den Genuss eines schokoladigen Kusses kommen würde.«
Sein Lachen war erfrischend wie Sommerregen.
Gleich Tau auf sterbenden Herbstblumen lag ein feuchter Glanz auf Claires Augen.
Lilu schluckte.
›Love hurts, Love scars.‹ Ob Nazareth jemals in einer solchen Lage gewesen sind? Haben sie ebenfalls diesen stechenden Schmerz gespürt? Ihm war, als seien alle sechs Extremitäten an Pferde gebunden, die in unterschiedliche Richtungen strebten.