»Den bergen wir am besten direkt am Seil«, erwiderte einer der Männer und machte sich, gefolgt von einem seiner Kollegen, an den Abstieg, während die beiden anderen zum Helikopter zurückgingen. Der Helikopter startete und positionierte sich, in der Luft stehen bleibend, genau über den Felsblöcken. Die beiden zurückgebliebenen Männer waren unterdessen in das Loch hinabgeklettert und hatten den Toten in ein Netz, ähnlich einer Hängematte, eingebunden. Vom Helikopter senkte sich jetzt, langsam und schwankend, ein Drahtseil zu den Männern hinunter. Die Hängematte wurde mit einem Haken am Drahtseil befestigt und mit der Seilwinde hochgezogen. Der Helikopter flog auf und landete nochmals auf der Wiese, nachdem er das Netz mit dem Toten vorsichtig auf dem Boden deponiert hatte. Drei der Männer luden die Leiche gemeinsam in den Helikopter, stiegen ein, und schon flog dieser wieder senkrecht hoch und verschwand knatternd hinter dem nächsten Felsvorsprung. Die ganze Aktion hatte keine zehn Minuten gedauert.
»Alle Achtung«, meinte Bruno Fuchs zu seiner Frau, »die machen das wahrlich nicht zum ersten Mal. Was meinst du, gehen wir auf schnellstem Weg nach Zermatt zurück?«
Barbara lächelte erleichtert. »Oh ja, mir reicht es wahrlich für heute…«
»Aber ich möchte den Fund doch noch ordnungsgemäss auf dem Polizeiposten melden«, ergänzte Bruno, »ich weiss nicht, ob und wann die Rettungsleute dazu kommen werden.«
Eine Stunde später sassen sie einem staunenden Polizisten Pfammatter gegenüber. »Oh, Sie haben den vermissten Mann gefunden, schneller als unsere Suchtrupps! Falls er es ist, heisst das, aber ich vermute es stark. Alle Achtung!«
»Mich müssen Sie nicht loben, mein Hund hat ihn gerochen«, erwiderte Bruno lachend, »ohne unsere braven Vierbeiner würde der noch ewig in diesem Loch liegen.«
»Ja, da haben Sie recht. Übrigens, hier habe ich ein Foto des Vermissten.«
Bruno nickte langsam. »Sein Kopf sah ziemlich schlimm aus, aber ich bin fast sicher, dass er es ist. Eine Frage noch: Wohin wurde der Tote gebracht?«
»Ich nehme an, wie üblich ins Spital nach Brig. Ich möchte mir jetzt noch Ihre Personalien notieren, für den Fall, dass noch Rückfragen nötig wären.«
»Sicher, gerne, hier ist mein Ausweis«, erwiderte Bruno rasch.
»Du willst doch nicht etwa den Toten im Spital Brig aufsuchen?«, fragte Barbara, als sie wieder draussen waren.
»Doch, genau das habe ich vor, meine Liebe. Ich weiss nicht genau warum, aber mein Bauchgefühl drängt mich dazu. Es sagt mir, irgendetwas sei faul an der Geschichte. Ich nehme jedenfalls den nächsten Zug nach Brig.«
Barbara schüttelte ihren Kopf. »Na gut, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich gehe jetzt ins Hotel und versuche, mich von dem ganzen Schrecken zu erholen.«
»Bruno Fuchs, Hausarzt in Pension«, sagte er und schüttelte der jüngeren Frau im weissen Arztkittel die Hand.
»Doktor Annette Meyer, freut mich, Herr Kollege. Kommen Sie, schauen wir uns die Bescherung an.«
Sie ging voran in einen kleinen Nebenraum, wo der Tote auf einem Schragen lag, und nahm einen Zettel zur Hand.
»Laut Personalausweis, den wir beim Verstorbenen gefunden haben, handelt es sich tatsächlich um diesen, ehm, Daniel Vontobel, den seine Frau gestern Morgen als vermisst gemeldet hat. Wissen Sie, Polizist Pfammatter hat mich vor einer halben Stunde telefonisch orientiert. Der Mann sei allein vom Gornergrat abgestiegen, das würde zum Fundort passen. Offenbar ist er vom Weg abgekommen und abgestürzt. Seine Frau wird ihn natürlich noch identifizieren müssen.«
Bruno Fuchs sah nachdenklich auf die Leiche hinunter. »Darf ich ihn kurz untersuchen?«
»Bitte sehr, machen Sie nur. Soweit ich gesehen habe, hat er sich beim Sturz das Genick gebrochen und war sofort tot. Ich schätze, das war vor zwei oder drei Tagen.«
Bruno Fuchs ging langsam um den Toten herum und tastete ihn an mehreren Stellen ab. »Merkwürdig, sehr merkwürdig…«, murmelte er.
»Stimmt denn etwas nicht?«, fragte Annette Meyer neugierig.
Der pensionierte Hausarzt schüttelte langsam den Kopf. »Den Bruch des Halses und den Todeszeitpunkt, das beurteile ich gleich wie Sie. Aber hier, sehen Sie, diese Wunde am Hinterkopf, die gefällt mir nicht. Das sieht für mich gar nicht wie eine Sturzwunde aus, eher so, als sei da mit einem harten Gegenstand draufgeschlagen worden, oder als sei ein Stein mit grosser Wucht darauf gefallen.«
Die Ärztin sah sich die Wunde sorgfältig an. »Ja, Sie könnten durchaus recht haben. Ich sollte wohl doch besser eine Autopsie beantragen.«
Bruno Fuchs nickte zustimmend und verabschiedete sich. Annette Meyer rief den Rechtsmediziner Tobias Imesch in Sitten an, und dieser sicherte ihr zu, die Obduktion noch am selben Tag vorzunehmen.
Eine Stunde später traf Claudia Vontobel im Spital Brig ein. Polizist Pfammatter war zu ihr ins Hotel gekommen, hatte ihr die traurige Nachricht von der Bergung ihres Mannes überbracht und sie gebeten, zur Identifikation so schnell wie möglich nach Brig zu fahren. Auch hatte er sie ersucht, bis auf weiteres in Zermatt erreichbar zu bleiben. Im Spital wurde Claudia Vontobel von Annette Meyer mit einem warmen Händedruck empfangen. Nach einem kurzen Gespräch führte die Ärztin sie zum leblosen Körper. Claudia Vontobel warf nur einen kurzen, traurigen Blick auf ihn, nickte und wendete sich wieder ab. Ohne zu zögern unterschrieb sie dann das Identifizierungs-Formular. Als die Ärztin sie, ohne irgendwelche Gründe dafür zu nennen, über die bevorstehende Obduktion informierte, zuckte Claudia Vontobel nur stumm mit den Achseln und verabschiedete sich dann rasch. Zehn Minuten später befand sich der Tote schon auf dem Weg ins Spital Sitten.
Konzentriert blickte Lena Pieren auf ihren Bildschirm. Sie war noch nicht ganz zufrieden mit ihrem Entwurf des Fragebogens, mit dem die grosse Umfrage unter den Feriengästen von Zermatt gemacht werden sollte. Lena wusste, dass die Ergebnisse einer Umfrage niemals präziser sein konnten, als es die den Leuten gestellten Fragen waren. Die Qualität des ganzen Projektes basierte also entscheidend auf der Qualität des Fragebogens. Deshalb verwendete sie sehr viel Zeit darauf, die Art der Fragen immer wieder zu überdenken und zu optimieren. Was die ganze Sache erschwerte, waren die Übersetzungen in andere Sprachen. Diese mussten einerseits präzise sein, andererseits der Mentalität der fremden Sprache angemessen. Besonders wichtig war dies bei den asiatischen Sprachen. Andernfalls könnten die Gäste aus Asien die Fragen anders auffassen, als sie gemeint waren, und die Ergebnisse würden verfälscht oder im schlimmsten Fall sogar unbrauchbar. Deshalb hatte Lena für alle Übersetzungen auf Fachpersonen der jeweiligen Muttersprache zurückgegriffen.
»Sehr fleissig, Lena!« Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war unvermittelt ins Büro getreten. »Wie geht es mit dem Fragebogen?«
»Doch, er ist auf gutem Weg. Lies ihn doch bitte mal durch. Hier, siehst du, vier Seiten mit insgesamt dreissig Fragen, schön gruppiert in sechs Themenbereiche. Ich denke, es braucht noch etwas Feinarbeit zur Optimierung der Fragestellungen. Aber bis Ende Monat sollte ich es schaffen.«
Klara überflog die bedruckten Blätter. »Macht mir einen guten Eindruck. Präzise und verständlich. Beinahe perfekt, würde ich meinen. Wie steht es mit den Übersetzungen?«
«Ehm, ja, das ist teilweise mühsam. Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch sind bis Ende Juli zugesichert, aber von den Übersetzern in Portugiesisch, Russisch, Hindi, Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Arabisch habe ich noch keine definitiven Termine erhalten.«
Klara zog die Stirn in Falten. »Das gefällt mir weniger. Ursprünglich wollten wir ja Mitte Juli mit allem bereit sein. Jetzt scheint sogar der erste August als Starttermin gefährdet. Du musst lernen, unseren Partnern mehr Druck aufzusetzen, Lena. Sonst denken die schnell, ach, es eilt ja nicht besonders, die können ruhig warten. Lena, ich erwarte von dir, dass du bis morgen Abend alle Säumigen gemahnt hast. Ende Juli ist und bleibt definitiver Abgabetermin.«
»Ja, ich mache es.« Lenas