»Jetzt habe ich es«, sagte Bruno, »sie heisst Nora von Graffenried, Vertreterin eines altehrwürdigen Berner Adelsgeschlechtes. Was meinst du: Sollen wir sie kurz ansprechen?«
»Warum eigentlich nicht, wenn sie schon allein unterwegs ist? Sie macht doch eine super Politik und ist kontaktfreudig.«
Bruno und Barbara stellten sich vor, und die Stadträtin freute sich über einen kleinen Schwatz in der vertrauten Berner Mundart.
Walter Werlen, Gemeindepräsident von Zermatt, verliess Punkt zwölf Uhr sein Büro in der Gemeindeverwaltung, die sich im hinteren Teil des Dorfes, direkt neben der Kirche, befand. Er pfiff leise ein altes Volkslied vor sich hin, während er die lange Bahnhofstrasse hinunter ging. Er war mit seinem langjährigen Freund Pirmin Perren zum Lunch verabredet. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen und hatten beide ihr ganzes Leben in Zermatt verbracht. Werlen war rundum zufrieden. Nach einem neuen Rekord in der vergangenen Wintersaison hatte auch die touristische Sommersaison ausgezeichnet begonnen. Natürlich spielte auch das meist schöne Wetter eine Rolle. Die einheimische Wirtschaft florierte, die politische Landschaft im Dorf war stabil, und sogar in Werlens Familie herrschte überwiegend Sonnenschein. Wie fast zu jeder Tages- und Abendzeit war auf der Bahnhofstrasse, der eigentlichen Flaniermeile von Zermatt, ein reger Fussgängerstrom in beiden Richtungen unterwegs. Auf einer Strecke von fast einem Kilometer reihte sich beinahe Restaurant an Restaurant, Laden an Laden und Boutique an Boutique. Autos waren in Zermatt verboten, dafür kurvten unzählige Elektromobile durch die teilweise engen Gassen, was für die Fussgänger auch zu gefährlichen Situationen führen konnte.
Werlen betrat die Walliserkanne, eines der traditionellen Restaurants des Dorfes, und schaute sich um. Am zweithintersten Tisch entdeckte er Perren, in eine Zeitung vertieft, und ging zu ihm hinüber.
»Grüss dich, Pirmin.«
Der Angesprochene erhob sich, und die zwei grossen, leicht korpulenten Männer drückten sich kräftig die Hand. »Walter, wie geht’s?«
Der Gemeindepräsident lächelte. »Ach, richtig gut, darf ich sagen. Zurzeit läuft einfach alles irgendwie rund, fast wie von selbst. Komm, setzen wir uns doch, ich spendiere einen Aperitif. Oder lieber ein Bier?«
»Oh ja, gerne.«
»Zwei Glas Bier bitte!«, rief Walter in Richtung Theke. »Und, wie läuft’s bei dir im Geschäft, Pirmin?«
»Ehm, wie soll ich das jetzt ausdrücken? Eigentlich müsste es sehr gut laufen. Die Aufträge sind da, die Nachfrage nach Sanitärinstallationen steigt eher noch an. Und doch… die Geschichte mit diesem, du weisst schon…«
Werlen hob seine Augenbrauen. »Du meinst… Vontobel?«
Perren nickte. »Das hat mir beinahe den letzten Nerv ausgerissen. Und natürlich ein erhebliches Loch in die Kasse geschlagen. Auf gut Deutsch gesagt, ist das ein schamloser Abzocker, auch wenn ihn nie jemand dafür ins Gefängnis wird bringen können.«
»Oh, so krass hast du das erlebt?«, erwiderte Werlen betroffen.
Perren zuckte mit den Achseln. »Na, was soll‘s. Ich hoffe, wenigstens etwas gelernt zu haben. In Zukunft werde ich viel genauer hinschauen, bevor ich einen Kreditvertrag unterzeichne!«
»Und trotzdem, Prost, Pirmin!« Sie stiessen mit den Biergläsern an.
Walter Werlen studierte die Speisekarte. »Hast du schon gewählt, Pirmin?«
»Ich nehme Menu eins, die Walliser Käseschnitte mit Salat.«
»Ja, doch, da kann ich mich anschliessen. Und natürlich einen kühlen Weissen dazu. Schau mal, wer da noch kommt. Tag Klara!«
Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war an ihren Tisch getreten. »Seid gegrüsst, Walter und Pirmin. Vertrauliche Besprechung?«
»Nein, überhaupt nicht, setz dich doch zu uns«, erwiderte Werlen, »und als Gemeindepräsident kann ich dir die Käseschnitte mit einem Glas Weissen empfehlen.«
Klara, eine grosse, stämmige Frau mit kurzen grauen Haaren, setzte sich lachend. »So, so, hast du etwa Aktien bei der Walliserkanne?«
Walter grinste. »Du weisst doch, dass ich sozusagen überall beteiligt bin. Meinst du, ich sei sonst in mein Amt gewählt worden? Übrigens, Klara, gerade vorher, auf dem Weg hierhin, habe ich zu mir selbst gesagt, wie glücklich wir alle sein können. Alles läuft in diesem Jahr so rund in Zermatt.«
Klara klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ja, Walter, wir machen einen guten Job und dürfen uns gratulieren. Die Saison läuft hervorragend, und auch Petrus macht bestens mit.«
»Und wie beurteilst du unseren gestrigen Jubiläumstag?«
Klara strahlte richtiggehend. »Auch damit bin ich zufrieden. Die Lichterkette am Matterhorn ist genial, und praktisch alle Zeitungen und Zeitschriften der Welt haben das Thema aufgegriffen. Zermatt ist buchstäblich in aller Munde!«
Walter lachte herzlich. »Also genau das, was eine Tourismusdirektorin glücklich macht.«
Klara boxte ihren Kollegen freundschaftlich in die Rippen. »Warum nicht? Du wirst sehen, die nächste Saison wird noch besser als diese. Und du, Pirmin, bist du auch zufrieden?«
Pirmin Perren machte ein saures Gesicht. »Nun ja, im Grossen und Ganzen schon.«
»Weisst du«, fügte Walter hinzu, »er nagt immer noch an seinem Ärger wegen dieses Halunken Vontobel.«
»Ach ja, ich habe davon reden hören. Da hattest du einfach Pech, Pirmin, das könnte doch jedem passieren.«
»Na ja, vielleicht schon. Achtung, unser Essen kommt.«
Claudia Vontobel hatte zum Lunch eine Suppe bestellt und es sich danach wieder im hoteleigenen Wintergarten gemütlich gemacht. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und der neue Kriminalroman eines Berner Autors zog sie vollkommen in den Bann. Als Claudia wieder auf ihre Uhr sah, war es bereits zehn nach vier. Sie verliess den Wintergarten und traf in der Halle auf Monika Maier.
»Sagen Sie, Frau Maier, Sie haben nicht etwa meinen Mann heimkommen sehen? Merkwürdig, dass er immer noch nicht da ist.«
Die Assistentin verneinte. Claudia bestellte noch einen Tee und ging zurück zu ihrem Kriminalroman. Gegen achtzehn Uhr kam sie wieder in die Halle, und diesmal sass Direktor Biner an der Rezeption und prüfte am Computer die Buchungen.
»Herr Biner, ich mache mir grosse Sorgen. Mein Mann müsste doch längstens zurück sein! Und auf dem Handy ist er unerreichbar. Es scheint so, als wäre es ausgeschaltet. Wenn ich nur wüsste, welche Route er auf dem Abstieg vom Gornergrat genommen hat!«
Biner schaute zu ihr auf. »Ja, Frau Vontobel, ich verstehe Ihre Sorge gut. Aber sehen Sie, ich durfte schon oft erleben, wie ein vermeintlich Verschwundener irgendwo aufgehalten wurde und dann wohlbehalten zurückgekehrt ist. Und auf dem Handy hat man leider an vielen Stellen rund um Zermatt keinen Empfang. Ich sehe also noch keinen Grund zu grosser Sorge. Ich schlage deshalb vor, Sie begeben sich jetzt zum Abendessen, und Ihr Mann wird sicher bald dazu stossen.«
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr so recht daran. Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«
Biner dachte an den jetzt in der Hochsaison chronisch überlasteten Zermatter Rettungsdienst. Täglich gab es Bergunfälle irgendwo auf den Viertausendern, da mussten die Rettungsmannschaften konstant Überstunden einlegen. Nein, heute Abend würde niemand mehr auf die Suche nach einem vermissten Wanderer gehen.
»Ich empfehle Ihnen, noch etwas zuzuwarten.« Kopfschüttelnd ging Claudia Vontobel in Richtung Speisesaal.
»Papa ist verschwunden!« Nadja klopfte an die Schlafzimmertür ihres Bruders. Da sie keine Reaktion vernahm, öffnete sie langsam die Tür. Thomas sass auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit grossen Kopfhörern über den Ohren und einem Buch auf den Knien.
Als