Gornerschlucht. Urs W. Käser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs W. Käser
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783967525830
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deinem Auftrag, Paul. Die zwei Toten in der Matterhorn-Nordwand müssen zuerst noch geborgen werden, und die vier am Monte Rosa Vermissten wollen auch gesucht sein. Ich zweifle daran, ob heute noch jemand verfügbar ist für unseren verschwundenen Wanderer.«

      Paul liess sich ebenfalls einen Kaffee in den Becher laufen. »Nun, das ist höhere Gewalt. Man kann eben nicht überall gleichzeitig sein. Eigentlich macht es mich richtig wütend, dass immer mehr Leute ungenügend ausgerüstet auf unseren Viertausendern herumkraxeln und sich einfach auf den Rettungsdienst verlassen, im Falle, dass sie nicht mehr weiterkommen. Also, ich versuche es.«

      Paul verschwand in seinem Büro, und keine fünf Minuten später klopfte er schon wieder bei seinem Vorgesetzten an. »Gregor, es ist so, wie du befürchtet hattest. Der Rettungsdienst ist völlig überlastet, und Wanderer fallen in die zweite Priorität. Die Suche wird also erst morgen früh aufgenommen. Muss ich das der Ehefrau beibringen?«

      »Warte mal ab, bis sie sich von selber meldet. Übrigens, Paul: Ist die Sache mit diesen Amerikanern erledigt?«

      Paul musste sich zusammennehmen, um seinen Unwillen nicht zu zeigen. »Na ja, Giovanni ist noch dran. Er hat die beiden heute Mittag befragt. Offenbar haben die zwei nach Mitternacht in der Cervin-Bar unter Alkoholeinfluss Streit bekommen und sind mit Messern aufeinander losgegangen. Der Barbesitzer musste Petra Wyler aufbieten, um beide zu verarzten. Giovanni bringt dir später den Rapport. Wird wahrscheinlich nur eine Busse absetzen.« Paul schüttelte seinen Kopf. »Eine blödsinnige Sache, das. Mit solchem Unsinn muss sich heutzutage die Polizei auseinandersetzen…!«

      Giovanni Renzo war der jüngste der drei Mitarbeiter auf dem Zermatter Polizeiposten. Er hatte vor zwei Jahren, gleich nach Abschluss der Polizeischule, hier angefangen und erledigte unterdessen alle Routinearbeiten weitgehend selbständig und zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten.

       Freitag, 17. Juli 2015

      Barbara Fuchs öffnete die Balkontüre und trat hinaus. »Oh je, ist das grau heute!«

      Eine düstere Wolkendecke lag über dem Tal, vom Matterhorn war nichts zu sehen, ein feiner Sprühregen liess Barbara frösteln. Schnell trat sie zurück ins Hotelzimmer und schlüpfte wieder ins Bett. Barbaras Mann Bruno drehte sich um und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf. Barbara strich ihm zärtlich über die grauen Haare, legte ihren Kopf auf ihr Kissen und döste noch eine Weile vor sich hin. Plötzlich schreckte sie hoch, weil sie etwas Feuchtkaltes an ihrer Wange spürte.

      »Ach so, du bist es, Blacky! Ja, ich weiss, es ist Zeit für den ersten Spaziergang.«

      Der schwarze Labrador hatte verstanden und trottete, heftig wedelnd, in Richtung Türe. Barbara stand auf, schlüpfte rasch in die Kleider vom Vortag und ging mit Blacky zu einer ersten kleinen Runde ums Hotel.

      Als sie zurückkamen, stand Bruno auf dem Balkon und machte seine allmorgendlichen Freiübungen. Blacky lief sofort zu ihm und schnupperte eifrig an seinen nackten Füssen herum.

      »Ja, ja, ist schon gut, braver Hund«, beschwichtigte Bruno ihn, »ich bin ja gleich fertig.«

      Kaum jemand hätte Bruno Fuchs seine siebzig Jahre gegeben, er war schlank und drahtig wie eh und je geblieben. Als pensionierter Hausarzt wusste er, wie wichtig die regelmässige körperliche Aktivität für die Gesundheit war. Und in Barbara, der Apothekerin, hatte er eine treue Befürworterin einer gesunden Ernährung und Lebensweise.

      »Was könnten wir denn heute unternehmen, bei diesem grauen Wetter?«, fragte Barbara, als sie die Treppe hinunter in Richtung Frühstückssaal gingen.

      »Wie wär‘s mit der Gornerschlucht?«, antwortete Bruno. »Das sollte gut zu machen sein. Der Wetterbericht meldet keine nennenswerten Niederschläge, höchstens ein wenig Nieselregen.«

      »Gute Idee«, meinte Barbara, »dort waren wir bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr. Und, weisst du was, Bruno? Ich bin total hungrig, heute schlage ich am Frühstücksbuffet richtig zu!«

      Bruno stupste seine Frau lachend in die Seite, und sie betraten den Saal Hand in Hand wie ein frisch verliebtes Paar.

      »Schau mal, Barbara, das Wetter bessert sich rapide. Die Sonne drückt kräftig durch die Wolkendecke, und schon sind einige blaue Flecke am Himmel zu sehen!«

      »Ja, eine richtig schöne Stimmung!«, pflichtete Barbara bei.

      Nach einer halben Stunde Weg durch die feuchtkühle Schlucht, unter sich den tosenden Gletscherfluss, links und rechts fast senkrechte Felswände, waren sie am oberen Ende der Gornerschlucht angekommen. Der Blick weitete sich, die Wände gingen in vom Gletscher rundgeschliffene Felsbuckel über, das Flussbett wurde breiter, die Strömung langsamer.

      Bruno streckte seinen Arm in die Höhe. »Was meinst du, sollen wir noch ein Stück weiter den Hang hinauf wandern? Der Blick auf den Gornergletscher wäre sicher spektakulär von dort oben.«

      »Einverstanden«, sagte Barbara, »komm, Blacky!«

      Aber Blacky weigerte sich schon nach wenigen Metern, weiterzugehen! Er fing an, zu winseln, lief mehrmals vor und zurück, streckte seine Schnauze talabwärts, und schliesslich ging das Winseln in ein langgezogenes Jaulen über.

      »Blacky, was hast du denn?«, fragte Barbara. »So extrem führt er sich sonst nie auf, da stimmt doch etwas nicht!«

      Bruno schaute sich um. »Du hast recht, Barbara, irgendetwas ist hier faul.« Blacky neben sich, stieg er vorsichtig einige Schritte den steilen, steinigen Hang hinunter.

      »Pass bloss gut auf«, rief ihm Barbara ängstlich hinterher, »dort unten geht es senkrecht in die Tiefe!«

      Bruno hatte jetzt einen Absatz mit einer Ansammlung von grösseren Felsblöcken erreicht, und Blacky schnupperte aufgeregt überall herum. Zwischen den Felsblöcken taten sich mehrere tiefe, wohl durch die Wirkung des Gletschers entstandene Löcher im steinigen Boden auf. Blacky blieb stehen und winselte in eines dieser Löcher hinein. Bruno schaute hinunter und stiess sogleich einen spitzen Schrei aus. Etwa drei Meter in der Tiefe lag ein zusammengekrümmter Mann. Der Kopf, das Hemd und die nackten Arme waren blutverkrustet. Neben seinen Füssen lag ein Wanderrucksack.

      »Ein Toter, hier im Loch«, rief Bruno mit zittriger Stimme nach oben.

      »Oh, wie schrecklich«, murmelte Barbara und hielt sich eine Hand vor den Mund.

      Bruno kraxelte, fast auf allen Vieren, wieder zu Barbara hinauf, machte eine stumme, vage Geste zu ihr, zog sein Handy hervor und stellte die Notrufnummer ein.

      »Hier Bruno Fuchs. Hören Sie, am oberen Ausgang der Gornerschlucht liegt ein Toter, in einem etwa drei Meter tiefen, senkrechten Loch. Wird nicht einfach zu bergen sein … Ja, etwa dreissig Meter unterhalb des Wanderweges … Oh, das habe ich nicht gewusst … Ja, wir warten hier solange.«

      Barbara sah ihn fragend an. »Was hast du nicht gewusst?«

      »Stell dir vor, dieser Mann – sofern er es denn ist – wird seit vorgestern vermisst, und heute Morgen sind mehrere Suchtrupps mit Hunden auf den Wanderwegen unterwegs. Und was passiert? Unser braver, alter Blacky schlägt die Profi-Spürhunde und findet zielsicher den Vermissten!«

      »Ja, wirklich erstaunlich«, bestätigte Barbara und tätschelte Blacky anerkennend den Hals.

      »Übrigens«, ergänzte Bruno, »schicken sie gleich die Rettungsflugwacht. Das Wetter hat soweit aufgeklart, dass man gut fliegen kann. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die hier sind. Komm, wir setzen uns zum Warten auf diesen grossen, flachen Stein.«

      Sie setzten sich auf ihre Windjacken, stützten die Arme auf die Hände, blickten schweigend in die Ferne und hingen ihren Gedanken nach.

      Kaum eine halbe Stunde später kam mit ohrenbetäubendem Knattern ein Helikopter der Rettungsflugwacht angeflogen und landete, etwa zweihundert Meter weiter oben, auf einem kleinen, fast ebenen Wiesenstück. Vier Männer in knallorangen Overalls, jeder mit Rucksack, stiegen aus und kamen quer durch den steilen Hang zu Bruno und Barbara