Als danach der Kaffee serviert wurde, schaute Barbara auf ihre Uhr. »Oh, schon neun vorbei. Ich bin ja gespannt auf das beleuchtete Matterhorn.«
Bruno schaute auf. »Ach ja, richtig, heute ist ja das grosse Jubiläum! Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, mit welch einfacher Ausrüstung die Bergsteiger vor 150 Jahren diesen schwierigen Gipfel bezwungen haben. Schuhe mit genagelten Sohlen, dazu Hosen, Jacke, Handschuhe und Mütze, alles aus grober Wolle. Dann ein schweres Hanfseil zur Sicherung und ein Lederrucksack für die Verpflegung, das war alles, was sie hatten. Und natürlich auch keine Hütte, um auf halber Höhe zu übernachten, wie es heutzutage ganz selbstverständlich ist. Nein, die Bergsteiger mussten sich irgendwo, wohl auf über 3000 Metern Höhe, auf den steinigen Boden legen, sich behelfsmässig mit allen mitgebrachten Kleidern zudecken und so den nächsten Morgen abwarten.«
»Dafür hatten sie jede Menge Wagemut, Selbstvertrauen und Gottvertrauen«, ergänzte Barbara lächelnd, während Bruno seine Geldbörse hervorholte, um die Rechnung zu begleichen.
Als sie das Restaurant verliessen, war es fast ganz dunkel geworden. Auf dem Rückweg zum Hotel blieben sie an einer Stelle stehen, die von der Strassenbeleuchtung nur wenig erhellt wurde und von der aus man freie Sicht auf das Matterhorn hatte.
»Oh, wie wunderschön, das war eine tolle Idee vom Zermatter Bergführerverein«, schwärmte Barbara.
»Ja, richtig romantisch«, stimmte Bruno zu und legte seiner Frau einen Arm um die Taille.
Am Hörnligrat, der Aufstiegsroute der Erstbesteiger des Matterhorns, hatten die Zermatter Bergführer eine Lichterkette installiert, die bis zum Gipfel reichte. Diese Lichter gingen jedoch nicht alle gleichzeitig an. Zunächst war nur ein einzelnes Licht bei der Hörnlihütte, am heutigen Ausgangspunkt der Matterhornbesteigung, sichtbar. Einige Sekunden später ging ein zweites Licht etwas weiter oben an, etwas später das dritte, dann das vierte und so fort. Auf diese Weise zeichneten die Lichter, sozusagen im Zeitraffer, Stück für Stück die ganze Aufstiegsroute am Hörnligrat bis zum Gipfel nach. Es sah absolut märchenhaft aus: Die schwarze Kontur des Matterhorns vor dem etwas helleren Nachthimmel und in deren Mitte die glitzernde Lichterkette. Mehrere Minuten blieben Barbara und Bruno andächtig stehen, bevor sie langsam zurück zum Hotel schlenderten.
Mittwoch, 15. Juli 2015
»So, hat Ihnen unser Frühstücksbuffet geschmeckt?«, fragte Patrizia Werlen die beiden, als sie an die Rezeption traten.
»Ja, was soll ich jetzt sagen«, erwiderte Claudia Vontobel mit matter Stimme, »mein Mann hat es in vollen Zügen geniessen können. Aber ich selber habe sehr schlecht geschlafen und fühle mich nicht wohl. Deshalb konnte ich nur eine Tasse Tee zu mir nehmen.«
»Oh, das tut mir wirklich sehr leid. Wahrscheinlich haben Sie die ungewohnte Höhe von mehr als 3000 Metern über Meer schlecht ertragen, das kommt leider öfter vor.«
Die Hotelassistentin griff unter die Theke, zog ein hübsch verpacktes Geschenkpaket hervor und überreichte es ihrem Gast. »Hier, ein kleines Trostpflästerchen für Ihr Pech.«
»Oh, danke, das ist aber ausserordentlich nett!«, erwiderte Claudia Vontobel.
»Was haben Sie denn nun vor? Möchten Sie sich noch ein wenig hier im Hotel erholen?«
Claudia Vontobel überlegte einen Moment. »Nein, ich denke, es ist besser, ich fahre so schnell wie möglich wieder nach Zermatt hinunter. Mein Mann jedoch wird zu Fuss ins Tal absteigen.«
Patrizia Werlen drückte beiden die Hand. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und weiterhin eine schönen Aufenthalt in Zermatt.«
Zehn Minuten später sah Patrizia Werlen durch das Fenster hindurch, wie sich die Vontobels vor dem Haus mit einem langen, innigen Kuss voneinander verabschiedeten.
Claudia stieg in den hintersten Wagen der weltberühmten roten Zahnradbahn. Jetzt, um halb zehn, fuhren nur einige wenige Fahrgäste ins Tal hinunter. Claudia entspannte sich zusehends und freute sich darüber, das wunderschöne Panorama auf die vergletscherten Viertausender, das die Fahrt bot, für einmal ohne das sonst übliche, hektische Lärmen der japanischen und amerikanischen Touristen geniessen zu können. Kurz vor halb elf erreichte Claudia das Hotel Steinbock.
An der Rezeption stand Monika Maier und machte grosse Augen. »Was, schon zurück, Frau Vontobel? Und allein? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur die Höhe schlecht ertragen, konnte kaum schlafen und bin deshalb gleich wieder ins Tal gefahren. Mein Mann steigt zu Fuss ab und wird im Laufe des Nachmittags eintreffen. Ich werde mich jetzt gemütlich mit einem Roman im Wintergarten installieren und hoffe, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen. Bringen Sie mir bitte einen Kamillentee.«
»Gerne! Und ich wünsche Ihnen baldige Besserung.«
Monika Maier gab die Bestellung telefonisch in die Küche durch, während Claudia in die Hotelbibliothek ging, um sich ein spannendes Buch auszusuchen.
»Ja, Blacky, bleib ruhig, wir sind ja gleich da.«
Barbara Fuchs kraulte ihren Labrador am Nacken. Dieser stand auf der Plattform, wedelte mit dem Schwanz und wartete offensichtlich darauf, dass sich die Tür öffnete und ihn ins Freie springen liess. Die Gornergratbahn verlangsamte ihr Tempo und kam neben dem grossen Schild mit der Aufschrift Riffelberg zum Stehen. Barbara, Bruno und Blacky stiegen aus. Die Sonne schien, die Luft war hier, auf 2500 Metern Höhe, herrlich frisch, und auf der anderen Talseite erhob sich die majestätische Pyramide des Matterhorns in den tiefblauen Himmel.
»Einfach ein Traum«, sagte Barbara, blieb stehen und schaute in die Runde. Bruno legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Ja, wunderschön. Was meinst du zu einem kleinen Kaffee da hinten?« Keine fünfzig Meter entfernt stand das altehrwürdige Hotel Riffelberg. Ein grauer Steinbau, dem rauen Klima hier im Hochgebirge trotzend, bot das Hotel sommers wie winters ihren Gästen eine herrliche Sonnenterrasse mit Blick aufs Matterhorn an.
»Gerne«, erwiderte Barbara, und sie nahmen an einem der vordersten Tische Platz. Blacky hatte keine besondere Freude daran, er wäre lieber gleich losgelaufen. Aber eben, mit so alten Rudelführern musste man sich wohl irgendwie arrangieren…
Eine halbe Stunde später waren sie wieder unterwegs. Der bequeme Weg führte sanft abwärts, weder grosse Steine noch steile Stufen stellten für die betagten Wanderer ein Hindernis dar. Blacky war voll in seinem Element, unermüdlich sprang er vor und zurück und erkundete die Umgebung. Plötzlich blieb Barbara, die voraus ging, stehen.
»Oh, was sehe ich denn da. Eine hübsche Blume, aber was kann das bloss sein? Vom Aussehen her tippe ich auf ein Nelkengewächs.«
Bruno bückte sich und sah die Pflanze genau an. »Korrekt, Barbara, es ist ein Nelkengewächs. Die Alpen-Pechnelke, Silene suecica. Nur fünfzehn Zentimeter gross, aber mit einem ganzen Büschel von sehr hübschen, pinkfarbenen Blüten. Eine ziemlich seltene Blume, ich habe sie bisher erst zweimal gesehen. Wunderschön!«
Bruno zückte seinen Fotoapparat und machte mehrere Aufnahmen der seltenen Pflanze.
Kurz darauf erreichten sie eine Wegkreuzung. Der knallgelbe Wegweiser war nicht zu übersehen. Links ging es in Richtung Gornergrat, rechts zur Riffelalp, und geradeaus steil hinunter zur Gornerschlucht. Blacky war stehen geblieben und hechelte in der dünnen Bergluft heftig vor sich hin. Barbara hatte noch eine blaue Blume genauer studiert und kam etwas später hinzu.
»Ein wunderschöner Weg«, rühmte sie, »ich nehme an, wir gehen in Richtung Riffelalp weiter?«
»Okay«, sagte Bruno, aber statt weiterzugehen, hielt er noch sein Fernglas vor die Augen. »Moment mal, die Frau dort kenne ich doch von irgendwoher.«