Gornerschlucht. Urs W. Käser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs W. Käser
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783967525830
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ist verschwunden! Er wollte allein vom Gornergrat absteigen und ist nicht in Zermatt angekommen. Und auf dem Handy meldet er sich auch nicht. Ach, Thomas, es muss etwas Schlimmes passiert sein!« Nadja warf sich auf das Bett ihres Bruders und begann zu schluchzen.

      Thomas umfasste ihren Kopf. »Nun beruhige dich doch, Schwesterherz. Es wird sich bestimmt alles aufklären.«

      Nadja schniefte hörbar. »Aber es ist elf Uhr nachts, und Papa irrt vielleicht irgendwo zwischen den Felsen umher! Oder ist abgestürzt! Wir müssen ihn doch suchen gehen!«

      »Bitte, Nadja, sei vernünftig! Jetzt in der Nacht kann man nicht suchen gehen. Wenn er morgen früh immer noch nicht da ist, wird Mama bestimmt die Polizei einschalten. Denk doch mal nach. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass unser Vater im Bett einer anderen Frau übernachtet…«

      Nadja schaute ihren jüngeren Bruder zweifelnd an. »Spar dir deine dummen Sprüche. Ich mache mir echt mega Sorgen. Bestimmt werde ich heute Nacht kein Auge zu tun.«

      »Trink doch noch ein grosses Bier, das beruhigt wunderbar.«

      Nadja erhob sich und wandte sich kopfschüttelnd zur Türe. »Wieder mal typisch Mann, macht dumme Lösungsvorschläge, statt Empathie zu zeigen…«

      »Gute Nacht, Frau Psychologin«, rief ihr Thomas ärgerlich hinterher und zog wieder seine Kopfhörer über.

       Donnerstag, 16. Juli 2015

      Lea wachte früh auf. Zum Glück habe ich ein eigenes Zimmer, dachte sie, da kann ich einschlafen und aufstehen, wann ich will. So wie zuhause in meiner Zweizimmerwohnung in Bern. Es war erst halb sechs, und Lea beschloss, noch etwas liegenzubleiben. Bald blieben ihre Gedanken an den letzten Tagen hängen, an Patrick, an ihrer Eifersucht auf Maja, an ihrem doch noch gelungenen gemeinsamen Exkursionstag in der Höhe. Aber schliesslich dachte sie nur noch an Patrick. Wie lange sie sich schon kannten! Schon am ersten Tag ihres Studiums, vor nunmehr sieben Jahren, war er ihr aufgefallen, mit seinem hübschen Gesicht und seiner lockeren und trotzdem bescheidenen Art. Richtig zusammengekommen waren sie dann leider nie. Flirts hatte es immer wieder gegeben, und einige Male hatten sie auch rumgeschmust und sich geküsst. Aber immer war danach etwas dazwischengekommen. Sei es, dass sie Streit bekamen, sei es, dass sich Patrick oder Lea anderweitig verliebte. Aber irgendwie blieben sie stets miteinander vertraut, und vor allem Lea hatte regelmässig neue Anfälle von Verliebtheit, gepaart mit der entsprechenden Eifersucht, wenn sie dann Patrick mit anderen Frauen schäkern sah. Ganz schlimm war es aber erst diesen Sommer geworden, seit sie mit Patrick und Maja in dieser Zermatter WG wohnte. Lea war ziemlich sicher, dass Maja gar nicht wirklich verliebt in Patrick war. Aber ihre offene, fröhliche, unkomplizierte Art, mit Patrick umzugehen, weckte permanent Leas Eifersucht. Zudem hatte die ständige Nähe zu Patrick ihre Gefühle für ihn erneut aufflammen lassen. Es kann wirklich so nicht weitergehen, grübelte sie. Ich muss so bald wie möglich das Gespräch mit ihm suchen und herausfinden, wie es wirklich um seine Gefühle steht! Wenn er mich nicht liebt, soll er mir klaren Wein einschenken. Und wenn er mich liebt… ach, wäre das himmlisch…

      Paul Pfammatter betrachtete die mittelgrosse, schlanke, blonde Frau, die soeben den Polizeiposten betreten hatte. Sie wirkte nervös, und von ihrem Aussehen her tippte er auf eine amerikanische Touristin. Sie war elegant gekleidet, perfekt frisiert und auffällig geschminkt. Doch er hatte sich geirrt, die Frau sprach ihn auf Berndeutsch an.

      »Guten Tag, Herr…?«

      »Polizist Pfammatter, guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«

      »Sehen Sie, Herr Polizist, ich komme, weil, ehm, mein Mann, Daniel Vontobel, verschwunden ist.«

      Pfammatter stöhnte innerlich auf. Geschichten von angeblich verschwundenen Männern, das bekam er immer und immer wieder zu hören. In der Regel tauchten diese Männer nach ein oder zwei Tagen ganz friedlich wieder auf, und der ganze Aufwand für die Vermisstenanzeige und die Suchaktion war dann für die Katz gewesen. Pfammatter zwang sich jedoch dazu, freundlich zu bleiben, bat die Frau, ihre Geschichte zu erzählen und notierte sich währenddessen Stichworte auf einem Notizblock.

      «Nun, Frau Vontobel, natürlich müssen wir diese Sache sehr ernst nehmen. Sie haben also Ihren Mann gestern Morgen um halb zehn auf dem Gornergrat zum letzten Mal gesehen?«

      Claudia Vontobel zog ein Papiertaschentuch hervor und schnäuzte sich. »Ja, und leider hat er mir nicht gesagt, welche Route er beim Abstieg nach Zermatt wählen wollte.«

      »Das ist nicht allzu schlimm, es gibt ja nicht unendlich viele Möglichkeiten. Hatte er ein Handy mit?«

      »Ja, aber als ich ihn gegen fünfzehn Uhr anrufen wollte, war es ausgeschaltet. Oder er hatte keinen Empfang. Und auch später konnte ich ihn nicht erreichen.«

      »Haben Sie ein Bild von ihm dabei?«

      »Selbstverständlich.« Claudia öffnete ihre Geldbörse und zog ein kleines, farbiges Passfoto hervor.

      »Sie bekommen es natürlich wieder zurück«, ergänzte Pfammatter und sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt acht Uhr zwanzig. Ich werde gleich eine offizielle Vermisstenmeldung erstellen. Diese geht dann per SMS an alle Bergführer und an alle anderen Personen, die oberhalb von Zermatt im Tourismussektor arbeiten. Sollte Ihr Mann bis zum frühen Nachmittag noch nicht aufgetaucht sein, werde ich die Rettungskolonnen organisieren, welche die Wege systematisch absuchen. Sind Sie mit diesem Vorgehen einverstanden?«

      Claudia Vontobel nickte, bedankte sich und ging zurück zum Hotel.

      Kaum war Claudia in ihrem Zimmer angekommen, läutete ihr Handy.

      »Mama, wie steht es?«

      »Ach, Nadja, schön, dass du anrufst. Papa ist und bleibt verschwunden. Sein Handy ist offenbar ausgeschaltet. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert sein könnte. Aber die Polizei ist informiert und lässt ihn suchen.«

      »Ach, Mama, was kann denn nur geschehen sein? Ich mache mir mega Sorgen! Thomas und ich könnten doch gleich morgen nach Zermatt kommen, was meinst du dazu?«

      »Ach, seid ihr doch lieb, meine Kinder! Gut, wenn ihr Zeit habt, dann kommt ruhig her. Ich organisiere euch ein Zimmer.«

      Gregor Guntern, Polizeivorsteher von Zermatt, verliess den Polizeiposten, der im hinteren Teil des Dorfes, nahe bei der Gemeindeverwaltung, stationiert war. Wann immer er es einrichten konnte, ging Gregor zum Mittagessen nach Hause. Dort konnte er abschalten und fühlte sich danach erholt und fit für den Nachmittagsdienst. Das Haus, das Gregor Guntern mit seiner Frau und den drei fast erwachsenen Töchtern bewohnte, befand sich, nur fünf Fussminuten entfernt, auf einer leichten Anhöhe, mit prächtiger Sicht auf das Dorf und zum Matterhorn. Als Gregor den Kirchplatz überquerte, kam ihm Gemeindepräsident Walter Werlen entgegen.

      »Na, Gregor, wieder einen Fall gelöst?«, fragte dieser lachend.

      »Eben nicht, der Fall fängt erst gerade an. Ein Mann wird seit gestern irgendwo zwischen Zermatt und dem Gornergrat vermisst. Er wollte allein absteigen und ist verschwunden.«

      Walter grinste. »Na, häufig tauchen doch verschwundene Männer bald von selbst wieder auf. Hast du mir selber kürzlich gesagt.«

      »Ja, schon, aber diesmal glaube ich nicht daran. Und die Rettungsmannschaften sind wegen der vielen Unfälle auf den Viertausendern bereits überlastet.«

      Werlen zuckte mit den Achseln. »Ja, sozusagen die Kehrseite unseres florierenden Tourismus. Immer mehr Kletterer, immer mehr Abstürze. So, ich muss weiter. Bin mit Theo zum Essen verabredet. Schönen Tag noch, Gregor.«

      Während der Gemeindepräsident schnellen Schrittes in die Bahnhofstrasse einbog, blieb der Polizeivorsteher noch einen Moment in Gedanken versunken stehen. Nein, er hatte definitiv kein gutes Gefühl bei dieser Sache mit dem verschwundenen Mann.

      »Nichts. Leider nichts. Niemand hat sich wegen des Vermissten gemeldet.« Paul Pfammatters Stimme klang leicht verärgert. »Dann müssen wir wohl oder übel den Rettungsdienst alarmieren.«