RAF oder Hollywood. Christof Wackernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christof Wackernagel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783866746800
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laut sagte, und deswegen je zehn Stockschläge auf die Finger bekommen hatte, wurde er sauer. »Hier in Bayern sitzen überall noch die Nazis drin«, sagte er, »da wird sich nie was ändern!«

      Eines Tages kam meine Stiefoma aus Brasilien zu Besuch. Sie hatte immer rote Augen und sprach langsam und verschwommen. Meine Mutter war gereizt und schlecht gelaunt. »Sie hasst sie«, erklärte Sabine, »weil sie als Kind immer so tun musste, als sei das ihre echte Mutter, sonst hätte sie kein Abitur machen dürfen.«

      Nachdem diese merkwürdige Frau ein paar Tage da war, zeigte mir meine Mutter unsere Mülltonne, die voll mit leeren Weinflaschen war. »Sie ist alkoholkrank«, erklärte sie mir, »das ist ganz furchtbar.« Deswegen wirkte sie immer so abwesend. »Deine wirkliche Oma war eine ganz wunderbare Frau«, betonte meine Mutter, »schade, dass du Carlamutti nie kennenlernen konntest!«

      »Wie Tante Yella?«, fragte ich.

      »Ja«, sagte meine Mutter, »und weil sie Jüdin war, durften wir nie über sie reden!« Sie schaute ganz traurig. »Das war furchtbar!«, sagte sie mit erstickter Stimme – und sah wieder wütend auf die leeren Weinflaschen in der Mülltonne.

      Umso schöner war der Besuch von Onkel Helmut. Er war mein Patenonkel und der jüngste Bruder meiner echten Oma. So wie Yella nach England war er vor den Nazis nach Australien geflohen.

      Er logierte im Hotel Königshof am Stachus, einem prächtigen Bau mit vielen Balkonen, die geschwungene verzierte Geländer hatten, mit Kronleuchtern im Restaurant, überall samtroten Brokatvorhängen, die mit goldenen Bordeln seitlich befestigt waren, und rotgoldenen weichen Teppichen, auf denen man wie auf Watte ging.

      Wir saßen in der Sonne auf dem Balkon seines Zimmers, er lobte mein gesundes Aussehen und meine entzückenden Söckchen, schenkte mir fünf Mark und heimlich Schokoladeneier. Dann zeigte er seine Flugtickets: längliche Pappen, die wie ein Leporello aneinandergeklebt waren, das er so weit auseinanderfalten konnte, wie er seine Arme ausbreiten konnte. Er flog rund um die ganze Welt! Neuseeland, Bali, Indonesien, Indien, Dubai; dann Europa, wo er natürlich auch Yella und Otto besuchte, dann Amerika, um von da wieder zurück nach Australien zu kommen. Ich bewunderte ihn unendlich.

      »Woher hast du denn so viel Geld, um das alles zu bezahlen?«, fragte ich.

      »Das meiste sind geschäftliche Treffen29«, erklärte er, »entweder spreche ich mit Leuten, die unsere Kleider abkaufen, oder mit welchen, bei denen ich sie herstellen lasse, weil sie billiger produzieren als in Australien.«

      »Und woher hattest du das Geld, um die Fabrik in Australien zu bauen?«

      »Das hab ich mitgebracht«, erklärte er lächelnd.

      Ich sah ihn fragend an.

      »Du weißt doch«, begann er zu erzählen, »ich musste vor den Nazis fliehen. Yella war schon weg und hatte etwas vom Erbe unserer Mutter bekommen. Die Gersons hatten früher Eisenbahnen und Uniformen für das deutsche Militär produziert, davon war noch etwas übrig. Also bat ich sie um meinen Anteil; außerdem hatte ich schon einiges selbst verdient.« Er nickte in sich hinein und lächelte, seine braunen Runzeln glänzten in der Sonne. »Es musste alles ganz schnell gehen,30 einen Teil hatte ich in Form von Goldstücken und das meiste in möglichst großen Dollarscheinen, viel auch in Markscheinen. Dann nähte ich mir einen großen, dicken Gürtel, unter dem ich das Geld versteckte, den ich eng um den Bauch band und wodrüber ich meine Kleider zog. Ich legte ihn so lange nicht ab, bis ich in Sicherheit war!« Dann breitete er die Arme aus, sah mich liebevoll an und sagte in die Sonne blinzelnd auf den Stachus blickend:

      »Wie wunderbar, dass das alles vorbei ist! Du hast es gut! Das freut mich für dich!«

      1961

      Bald zogen wir in das zu unserem genau gleich aussehende Reihenhaus meines Stiefvaters Heiner Guter mit seinen beiden Töchtern. Der einzige Vorteil war, dass man draußen besser spielen konnte, weil gegenüber des Handtuchgärtchens keine Häuser waren, sondern eine Wiese und noch etwas weiter hinten ein Flüsschen, die Würm; dort gab es viele Bäume und Büsche, wo man sich gut verstecken konnte. Es war alles sehr beengt und meine Eltern, »die Alten«, wie wir Kinder sie nannten, stritten sich dauernd; da aber fast täglich Gäste kamen, immer wieder neue, vertrugen sie sich wieder, jedenfalls, solange die Gäste da waren.

      Wir Kinder wurden nie ausgeschlossen von den Gesprächen der Alten und ihrer Gäste. Eines der Hauptthemen in diesem Jahr war, dass Spione der Israelis einen alten Nazi, der nach Argentinien geflohen war, aufgestöbert und geklaut hatten.31 Alle Freundinnen und Freunde der Alten waren sich einig, dass das in Ordnung gewesen war. Der Mossad32, so hieß die Organisation der Spione, hatte ihn heimlich entführt – das hörte sich alles wahnsinnig spannend an. Auch wenn die Erwachsenen oft dummes Zeug redeten, in diesem Fall hatten sie recht. Die Zeitungen regten sich auf, dass das nicht legal gewesen sei – und darüber regten sich die Erwachsenen auf: Es habe sich nichts geändert in unserem Land, überall hätten die alten Nazis noch das Sagen, es gebe keine freie Presse. Heiner Guter, der sonst immer nur zynische Kommentare zum Besten gab, war in diesem Fall sehr ernst und höchst befriedigt. Meine Mutter nickte mit bitterem Lächeln und sagte: »Das hat der aber wirklich verdient.« Und ein andermal sagte sie: »Das ist eine Genugtuung für unsere Familie!«33

      Aber das Spannendste daran war etwas anderes. Wochenlang wurde darüber geredet, auch weil es eine technische Sensation war: der Prozess gegen Adolf Eichmann34 sollte live aus Jerusalem im Fernsehen übertragen werden! Es war unglaublich, man konnte es sich kaum vorstellen, wie das gehen sollte. Das, was die Kameras aufnahmen, wurde per Funk nach Deutschland und in alle Welt gesandt und dann hier ausgestrahlt! Unvorstellbar! Alle fieberten diesem Tag entgegen; normalerweise durften wir Kinder nicht Fernsehen, obwohl – beziehungsweise weil – meine Mutter beim Fernsehen arbeitete. An diesem Tag hätten wir aber gemusst, wenn wir nicht sowieso unbedingt gewollt hätten.

      Und am 11. April war es endlich so weit: Die Sonne schien, aber wir versammelten uns alle aufgeregt um den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher im Wohnzimmer unseres Reihenhäuschens. Die Alten waren nicht zur Arbeit gegangen, wir Kinder nicht in die Schule. Und wir konnten tatsächlich hier in München-Obermenzing sehen, was im selben Moment ganz weit weg im Jerusalemer Bezirksgericht stattfand:

      Von weit oben konnten wir sehen, wie ein in einen grauen Strickpulli mit einem V-Ausschnitt gekleideter Mann in einen gläsernen Käfig geführt wurde, der links in dem Gerichtssaal stand. Mit ihm zwei Bewacher – alle drei setzten sich. Er klammerte sich mit beiden Händen am Tisch fest und guckte fragend vor sich hin. Dann stand er hektisch auf und machte die Andeutung einer Verbeugung vor dem Richter. Danach nahm er wieder Platz und setzte Kopfhörer auf. Man hörte den Richter hebräisch sprechen, aber sofort legte sich eine Deutsch übersetzende Stimme darüber.

      Eichmann dachte über jede Frage nur kurz nach, bevor er prompt und präzise antwortete. Es klang alles ganz selbstverständlich. Manchmal schüttelte er den Kopf, widersprach aber nicht, sondern verbesserte den Richter. Er wirkte beflissen, teilweise fast rechthaberisch.

      Eigentlich sah er aus wie jeder andere. Nichts Besonderes. Ein gar nicht mal so alter Mann mit Krawatte und einem ausdruckslosen Gesicht.

      Ich empfand gar nichts und mir grauste zugleich, obwohl ich nicht wusste, wovon das ausgelöst wurde.

      So sah ein Nazi aus? Ein Massenmörder? Waren sie alle so?

      Ich hatte schon Hitler oder Goebbels und Göring im Fernsehen gesehen, wie sie rumbrüllten und blöde gestikulierten – hatte das aber eher lächerlich und unappetitlich gefunden.

      Eichmann35 war ganz anders. Völlig ruhig und unaufgeregt. Ich spürte, dass ich Herzklopfen hatte – keine Angst, aber ein dumpfes, unangenehmes Gefühl.

      Völlig aufgewühlt gingen wir auf die Veranda unseres Handtuchgärtchens, nachdem die Übertragung zu Ende war. Die Alten tranken Kaffee und schwiegen vor sich hin. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.

      »Wieso ist Tante Lily36 eigentlich nicht geflohen wie Yella, Otto und Helmut?«, wollte ich plötzlich wissen.

      Heiner