RAF oder Hollywood. Christof Wackernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christof Wackernagel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783866746800
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sogar eine Fensterscheibe, weil sie nun umgesiedelt wurden, damit andere Münchner Bonzen ihre Villen dort hinpflanzen konnten. Da Fips44 inzwischen mein bester Freund war und mir viel von der schlimmen Zeit nach der Flucht erzählt hatte, wusste ich, wie schwer sie es hatten und dass sie bestimmt auch nett waren – aber alle Annäherungsversuche stießen nur auf Wut und Ablehnung, und ich schämte mich für unseren Reichtum. Bald waren sie verschwunden.

      Nun musste ich nicht mehr von Obermenzing aus mit Bussen und Bahnen durch die ganze Stadt ins Maxgymnasium fahren, sondern hatte nur acht Kilometer mit dem Fahrrad zurückzulegen, da ich die neu erbaute John-F.-Kennedy-Brücke über die Isar als Abkürzung direkt nach Schwabing zur »Münchner Freiheit« nehmen konnte. Außerdem konnten mich meine Freundinnen und Freunde besser besuchen, da sich ganz in der Nähe eine S-Bahn-Station befand. Das Beste war, dass mit dem Einzug ins neue Haus meine Schwester aus dem Internat zurückkam. Sie hatte mir sehr gefehlt, und nun war die Welt wieder in Ordnung.

      Die Alten ließen sich nicht lumpen und veranstalteten ein rauschendes Fest zur Einweihung. Unzählige Gäste erschienen, die ich fast alle kannte, manche schon ganz lange, wie das Schauspielerpärchen Möbius45 und Böhlke46, die mein Vater noch in den fünfziger Jahren, als sie zusammen aus der DDR geflüchtet waren, engagiert und denen er eine Wohnung besorgt hatte, obwohl Homosexualität damals nicht nur verpönt, sondern auch verboten war, und die meiner Mutter immer die Treue gehalten hatten. Andere kannte ich durch Heiner, wie seine beiden Freunde aus der »Weiße-Rose«-Zeit Franz Müller47 und Hans Hirzel48, die mir viel mehr als Heiner selbst über die Weiße Rose erzählt hatten; Fernsehkollegen meiner Mutter, Architekturkollegen von Heiner, Schauspieler, Schriftsteller, Maler. In der Doppelgarage stand das Buffet, aber es wurde auch während der Party von einzelnen Gästen gekocht, meist improvisierte Fantasiegerichte, die aus Ingredienzien zusammengestellt wurden, die andere mitgebracht hatten, wobei immer eine Gruppe um den oder die Kochende herumstand, jeden Handgriff mit »Hallo!« und »Prost!« kommentierte und das Ergebnis vom Kochtopf weg direkt lautstark vor Wonne grunzend und brummend verspiesen wurde. Aus der weißen Stereoanlage der Alten, die »Schneewittchen« hieß, tönten Jazzmusik, Schlager aus den zwanziger Jahren und Musicals wie »My fair Lady«, und je später die Stunde, desto weniger bekleidet waren vor allem die weiblichen Gäste, die ihren alkoholisierten Zustand durch Sprünge in den Pool abkühlten.

      Heiner hatte wasserfeste Farben vorbereitet und nach Mitternacht, als die Stimmung sich dem Höhepunkt näherte, zogen die Maler und Grafiker unter den Gästen in den Keller und bemalten die weißen Kacheln des Sauna-Vorraums. Ein farbenprächtiges und so stilvolles wie stilreiches Gesamtkunstwerk entstand. Es wurde gekrönt von Magnus49, der von unten bis oben durch den ganzen Raum eine lange, kurvenreiche Reihe Pünktchen setzte und am Schluss ganz oben eine Fliege zeichnete.

      Rainer Zimnik50, dessen Bücher ich als Kind und sogar als Jugendlicher gerne gelesen hatte, schrieb an den oberen Rand des Wasserbeckens unübersehbar aus allen Perspektiven: »Lieber einen Busen in der Hand als eine Taube auf dem Dach.«

      Eines Tages kam ein Neuer in die Klasse. Er hatte weit auseinanderstehende Vorderzähne, lächelte freundlich spöttisch und trug eine rote Jacke. Sein Name war Eberhard, aber er nannte sich Ebby.

      Man konnte ihm gleich ansehen, dass er sich nichts sagen ließ. »Diesen ganzen Quatsch« mit Latein und Griechisch fand er überflüssig, fand es aber genauso überflüssig, deswegen »einen Aufstand zu machen«. Er konnte mit Hingabe beobachten, wie eine Ameise sich mit einem für ihre Verhältnisse riesigen Zuckerkristall abmühte, und ergötzte sich bis zur Selbstvergessenheit – genüsslich seine auseinanderstehenden Vorderzähne entblößend – an diesem Spektakel.

      Nach dem Tod seines Vaters war seine Mutter von Bad Nauheim nach München umgezogen, weil sie dort einen Job als Buchhalterin in der Zuckerfabrik »Diamant« bekommen hatte; deshalb gab es bei ihm zuhause immer alle Sorten von Zucker. Luise Jost war eine energische Frau, aber Ebby hatte das geerbt, und so hatten die beiden immer Zoff miteinander. Er fand es meist »ziemlich daneben«, was seine Mutter von sich gab, aber es war ihm häufig »zu anstrengend« sich »deswegen groß zu streiten«.

      Wir waren fast immer gegenteiliger Ansicht und wurden umso bessere Freunde; Fips, der wiederum unser beider Ansichten »völlig lächerlich« fand, war der Dritte im Bunde. Während Ebby und ich beim 430-Meter-Langlauf um das Maxgymnasium immer die Schnellsten waren – er stets eine Sekunde schneller als ich – und damit den Weitblick hatten, war Fips am schnellsten ganz oben und hatte den Überblick. Nur in einem waren wir uns immer einig – nämlich, wie komisch alles war: unsere Klassenlehrerin, Frau Weinzierl – allein schon der Name –, die uns Latein beibrachte, einfach nicht ernst zu nehmen, der lächerliche Dialekt der Bayern, den der Sachse Fips breitgezogen nachmachte, ihre seltsame Tracht, das Oktoberfest, das Demokratiegetue unseres humanistischen Gymnasiums und der Politiker, die Wichtigtuerei der eingebildeten Künstler, die blöden Autofahrer, die sich ganz toll fanden, bloß, weil sie ein Auto hatten, die Frauen, die sich ganz schick anzogen und dafür auch noch viel Geld ausgaben – wie konnte man nur so bekloppt sein –, manchmal nur die Gangart der Leute: alles und alle zum Totlachen! Ebby51 entblößte seine auseinanderstehenden Schneidezähne, Fips kicherte Fingernägel knabbernd in sich hinein und ich bekam Hustenanfälle.

      Einer der ältesten Freunde meiner Mutter, der oft an Wochenenden kam, um lange Gespräche zu führen, war Tobias Brocher52, der genauso aussah wie der Minister Walter Scheel53, weswegen ich immer lachen musste, wenn ich ihn sah. Ich kannte ihn schon aus Ulm, wo er oft mit meinem Vater und Inge und Otl Aicher-Scholl zusammen gewesen war. Ich mochte ihn sehr; er lächelte immer freundlich und konnte so gut zuhören. Mit seiner Tochter hatte ich schon im Sandkasten gespielt – er verkörperte eine Erinnerung an meinen Vater und die Zeit in Ulm, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Deshalb freute ich mich immer riesig, wenn er kam.

      Schon als Kind war ich immer sehr unruhig gewesen und wälzte mich ewig lange im Bett herum, bis ich einschlafen konnte. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde das. Keiner konnte mir helfen. Weil ich so großes Vertrauen zu ihm hatte, fragte ich ihn eines sonnigen Tages im Garten nach dem Kaffetrinken, als meine Mutter gerade das Geschirr wegräumte, ob er mir nicht einen Tipp geben könne.

      Er dachte nicht lange nach, lächelte mich auf seine einnehmende, fröhlich machende Art an, beugte sich auf seinem Stuhl vor, verschränkte seine Hände und stützte seine Arme auf den Knien auf. »Das ist ganz einfach«, erklärte er, »konzentriere dich auf deine Füße, wenn du unruhig bist und bewege sie abwechselnd hin und her – guck: so!« Dann führte er mit seinem Blick den meinen auf seine Füße und zog ganz langsam erst den rechten Fuß hoch, drückte ihn genauso langsam wieder nieder, dann machte er dasselbe mit dem linken. »Du musst dich ganz stark darauf konzentrieren!«, betonte er, »das ist das Wichtigste, an nichts anderes denken als an das und es mit großer Sorgfalt tun!« Er lehnte sich zurück, verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und zwinkerte mir mit warmer Milde zu: »Du wirst sehen, das klappt!«54

      Heiner kam aus dem Wohnzimmer zurück in den Garten.

      »Jetzt wollen sie einen Psychologen einsetzen, kam eben in den Nachrichten«, sagte er spöttisch; er machte nie einen Hehl daraus, dass er von Psychologie »und dem ganzen Kappes« nichts hielt. »Was meint denn der Herr Psychiater dazu?«, fragte er Tobias Brocher, der sich aber von Heiners zynischem Ton nicht aus der Ruhe bringen ließ.55

      Es ging um die Unruhen, die seit einiger Zeit in Schwabing ausgebrochen waren.56 So etwas hatte es noch nie gegeben. In der Schule mussten wir uns anhören, dass man »so etwas nicht dulden« könne, »dieses Gesocks eingesperrt« gehöre und wir von der Schule fliegen würden, wenn wir so etwas auch täten. Das alles erhöhte natürlich nur unsere – also Fipsens, Ebbys und meine – Sympathien mit den Rebellen und unsere Abneigung gegen die Polizei. Ebby, der in Schwabing wohnte, hatte vor allem »das nervige Tatütata der Bullen« mitbekommen und achselzuckend den Kopf geschüttelt: »Was wollen die eigentlich, die spinnen doch alle, wegen ein bisschen Musik so einen Aufstand zu machen!« Doch wir bedauerten es sehr, da nicht mitmischen zu können – mit unseren Eltern war nicht zu reden.

      Tobias Brocher dachte nach. »Ich denke«, sagte er schließlich, »es handelt sich dabei eher um ein politisches Problem als um ein psychologisches.«