»Ich musste eine halbe Stunde warten«, beendete Onkel Helmut seine Geschichte, »weil der Wachsoldat erst seine Vorgesetzten fragen wollte – und dann bekam ich von höchster Stelle den Bescheid, dass es undenkbar sei, mein deutsch-verseuchtes Blut64 australischen Soldaten zu geben.«
Jetzt lachten sie beide nicht mehr, sondern sahen schweigend nachdenklich vor sich hin.
Julia65 und ich zogen es vor, wieder wegzugehen und ich fragte sie, ob sie nicht mit mir in mein Zimmer kommen wolle.
Unter dem Eindruck des eben Gehörten wollte freilich keine rechte Stimmung aufkommen.
»Meine Großmutter66«, setzte Julia schließlich an, »erzählt auch manchmal von der Nazizeit.«
»Heiner nie«, sagte ich. »Ich kenn das nur von meinen Verwandten aus England, der Schwester von Onkel Helmut und von ihm natürlich. Die Bücher von Onkel Otto haben sie verbrannt. Und Tante Yella hat mal erzählt, dass die SA bei einer Hausdurchsuchung die Lederrücken von ihren Lexikonbänden mit scharfen Messern aufgeschlitzt haben, das waren ganz teure Bücher, mit Goldschnitt!«
»Bei meinen Großeltern haben sie mal eine Hausdurchsuchung gemacht«, erzählte Julia, »bloß, weil mein Großvater SPD-Abgeordneter gewesen war. Dabei hätten sie das gar nicht machen dürfen, weil Abgeordnete eigentlich immun sind! Und dabei haben sie meiner Großmutter in den Bauch getreten, obwohl sie mit meiner Mutter schwanger war.«
»Boah!«, machte ich.
»Deswegen hat meine Mutter diese Wunde mit dem Knubbel am Auge«, erklärte Julia, »auf dem Auge kann sie auch nicht gut sehen!«
»Wahnsinn!«, sagte ich und es schauderte mich. »Da kann man heute noch sehen, was die damals alles Schlimmes gemacht haben.«
Am nächsten Sonntag ging ich wie immer in die Kirche. Ich war Messdiener, eine Aufgabe, die ich gerne und mit Gewissenhaftigkeit erfüllte. Ich fühlte mich geborgen in den heiligen Hallen, roch gerne den Weihrauch und liebte diese stille, von allem Weltlichen losgelöste Atmosphäre. Es war wie ein Rausch, manchmal ging ich extra in die Kirche in Englschalking, nur um ungestört nachdenken und alles um mich herum zu vergessen zu können.
Ich betete oft – das Gerede der Gleichaltrigen, die glaubten »weiter« zu sein, das »nicht mehr nötig« zu haben, ließ mich kalt, zumal Fips und Ebby die Einzigen waren, die nicht deswegen über mich lästerten.
Gott war das Beste, das es gab, und er wollte nichts als das Beste für alle Menschen67 – dass es auf der Welt anders aussah, lag allein an den Menschen, die nicht an ihn glaubten. Er war nur lieb zu allen – das, konnte ich mich sogar noch erinnern, habe ich von meinem Papi gelernt.
Gott war eine unumstößliche Tatsache, er stand einfach nur für das Gute – so hatte ich das von meinem Vater übernommen.
Als ich Weihrauch schwenkend68 hinter dem Pfarrer in das Kirchenschiff trat, fiel mir plötzlich wieder ein, was Onkel Helmut von den Armen und Hungernden überall in der Welt erzählt hatte. Ich wusste das ja schon lange, aber so wie Onkel Helmut es erzählt hatte, war mir zum ersten Mal richtig klar geworden, dass das die größte Ungerechtigkeit überhaupt war. Und so flehte ich Gott an, ihnen zu helfen – wenn jemand es verstehen musste, dann Gott. Das alles war nur wieder einmal noch ein Grund mehr für mich, Papst zu werden: um wirklich etwas besser machen zu können in dieser Welt!69
Am nächsten Tag in der Schulpause, als Ebby, Fips und ich unsere Kreise im Hof zogen, überlegten wir, wohin wir nach der Schule gehen sollten, denn die letzte Stunde fiel aus. Eis kaufen, Hot Dogs essen, in Schallplattenläden gehen – alles langweilig. Da sagte Ebby: »Ich weiß, wo die Gammler im Englischen Garten immer sitzen, ich hab gestern mit denen geredet: da gehen wir hin.« Ich war Feuer und Flamme, fand die Idee wahnsinnig spannend, Fips zuckte mit den Achseln: »Anschauen können wir sie uns ja mal«, meinte er.
Die Gammler waren – nach den Protesten im Jahr zuvor – das neueste rote Tuch, über das sich die Erwachsenen aufregten. So wurden junge Leute genannt, die sich weigerten zu arbeiten und den ganzen Tag nichts machten, eben »gammelten«. Sie waren daran zu erkennen, dass sie immer in dunkelgrüne Parkas gekleidet irgendwo herumsaßen, Rotwein tranken und die staatlichen Autoritäten nicht respektierten; darüber empörten sich die Zeitungen am meisten – aber gerade das machte sie am interessantesten und erstmal grundsätzlich sympathisch.
Ich war sehr gespannt. Ebby führte uns über die »Münchner Freiheit«, den großen Platz, den man vom Maxgymnasium aus sehen konnte, direkt in den Englischen Garten, durch den der »Eisbach« floss, an dem wir stadteinwärts pilgerten, bis sich der Weg gabelte und auf der Wiese unter einem der riesigen alten und weitausladenden Baum tatsächlich die Gammler saßen: Sie hingen lässig rum, quatschten miteinander, tranken tatsächlich jetzt am Mittag schon Rotwein aus großen, mit hellem Bast umwickelten Flaschen und spielten Gitarre oder trommelten.
Und jetzt? Fips und ich sahen uns ratlos an, irgendwie ernüchtert – was daran so toll sein sollte, erschloss sich uns nicht; Fips knabberte an seinen Fingernägeln. »Und wen kennst du da?«, fragte ich Ebby. »Muss doch nicht«, antwortete er und schlenderte einfach auf die Wiese, wir ihm nach.
Plötzlich blieb mir schier das Herz stehen. Julia70 saß bei so einem bärtigen Gammler und unterhielt sich angeregt mit ihm. Sie war so mit ihm ins Gespräch vertieft, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ich ihr zuwinkte.
Ebby hatte sich inzwischen neben einem Gammler auf der Wiese niedergelassen und ihn einfach angesprochen; wie betäubt setzte ich mich hinzu. Fips machte eine Runde um die ganze Gruppe, bevor er sich auch zu uns setzte. Als Julia dadurch von ihrer Unterhaltung mit dem blöden Gammler abgelenkt wurde und zu Fips hochsah, entdeckte sie mich und winkte mir kurz zu, als sei das alles das Normalste auf der Welt.
Ich hasste diesen unappetitlichen Idioten, fand alle Gammler doof und wusste nicht, was wir hier verloren hatten. Was da geredet wurde, interessierte mich nicht. Als ich dann auch noch Julias glockenhelles Lachen hörte, in das ich mich so verliebt hatte, stand ich auf und ging.
Fips kam mit mir, Ebby war geblieben. »Die kommen sich wohl toll vor, bloß, weil sie nicht arbeiten«, fand ich, »und womit bezahlen sie ihren Rotwein?«
»Die schnorren halt«, meinte Fips achselzuckend.
Ich wollte natürlich nicht wie die Erwachsenen argumentieren und suchte nach schlagenden Argumenten, warum das nichts war für mich, aber meine bohrende Eifersucht ließ keinen klaren Gedanken zu.
Direkt am Englischen Garten wohnte in einem kleinen Reihenhaus mit Garten Franz Müller71, einer der Freunde von Heiner aus der Zeit der »Weißen Rose«. Ich mochte ihn von Anfang an, weil er zuhörte und selbst Fragen stellte, über die man nachdenken musste. Im Gegensatz zu Heiner erzählte er gerne aus der Zeit, in der sie gegen Hitler gekämpft hatten, was jedes Mal sehr spannend war.
Schon als es um die Proteste im letzten Jahr ging, hatte er eine andere Meinung als unsere Alten gehabt; er stritt sich oft mit Heiner über politische Dinge, freundschaftlich, aber hart. Ich wollte unbedingt wissen, was er von den Gammlern hielt und besuchte ihn einfach zusammen mit Fips. Da er freischaffend arbeitete, wie meine Mutter, war die Chance groß, ihn zuhause anzutreffen.
Tatsächlich öffnete er sofort, freute sich und lud ganz selbstverständlich auch Fips ein, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Dort saß er an einem Couchtisch und sortierte Schmuckstücke aus großen Kartons in bunte Döschen, Schächtelchen, Kästchen und Tütchen. Er handelte mit Schmuck und es war mir immer ein Rätsel gewesen, wie er davon leben konnte, weil meine Mutter dauernd klagte, wie schwer es sei, Geld zu verdienen; ich traute mich aber nicht, direkt zu fragen.
»Wir waren eben bei den Gammlern!«, berichtete ich, gespannt auf seine Reaktion.
»Und?«, fragte er nur und sortierte weiter seinen Schmuck.
Ratlos sah ich zu Fips.
»Weiß auch nicht«, sagte der.