Dieses Buch …
… ist keine Autobiografie.
Es ist auch keines über die RAF. Die RAF – als solche – hat es im Übrigen nie gegeben. Die RAF – das war ihre Besonderheit, ihre Stärke wie ihre Schwäche – war ein Zusammenschluss von Individuen, in dem jedes eine eigene Vorstellung von der Idee der RAF hatte:
Deshalb kann auch jede(r) – ehemals – Beteiligte nur für sich sprechen. In den folgenden Berichten in Tagebuchform geht es um die Entwicklung eines Bewusstseins, die in den Entschluss mündete, sich bewaffnetem Widerstand anzuschließen.
Damit sie nachvollziehbar wird, habe ich diesen in vielen Jahren gewachsenen und von vielen Erfahrungen, Begegnungen und erlebten zeitgeschichtlichen Ereignissen geprägten Prozess rein subjektiv beschrieben: eins zu eins den Zustand, das Denken, das Fühlen, den Zeitgeist zu Wort kommen lassen, wie er damals war, genau so geschrieben, wie ich damals dachte, fühlte, sprach und handelte, alles so dargestellt, wie ich es nach bestem Wissen und Gewissen von damals in Erinnerung habe.1
Wie und warum ich die RAF wieder verlassen hatte, was ich danach gemacht habe, warum ich seitdem auch Gegengewalt und Gegenmacht ablehne, wie ich heute denke und was ich heute tue, habe ich in unzähligen Interviews, Talk-Shows und Artikeln bereits erklärt, es ist auf meiner Webseite2 nachzulesen und liegt in Buchform3 vor.
Prolog
10. November 1977
Irgendetwas roch seltsam. Ich schloss die Tür hinter mir und schnüffelte. Die typische Amsterdamer Vorort-Wohnung in der Pieter Calandlaan hatte einige Wochen leer gestanden und roch nach vergorenem Fisch – ich zuckte mit den Achseln und riss die Fenster auf, um ordentlich durchzulüften.
Seit zwei Monaten in der Illegalität war ich nach Amsterdam gefahren, um Fotomaterial zum Zweck der Passfälschung zu kaufen. Als ehemaliges Mitglied des Fantasia-Druckkollektivs war ich prädestiniert dafür, mich auf diesen Bereich unserer subversiven Arbeit zu konzentrieren. Und da es in der RAF außer mir einige Haschischraucher gab, konnte ich nach getaner Arbeit die Chance nicht ungenutzt vorübergehen lassen, in Amsterdam, dem Mekka aller Kiffer, Nachschub für unsere Fraktion in der Fraktion zu kaufen. Sie war zwar nicht von allen gern gesehen, wurde aber stillschweigend geduldet, zumal unsere Altvorderen, die bis vor Kurzem in der Stammheimer Festung eingesessen hatten, samt und sonders die Cannabis-Heilkräuter liebten; oft waren wir von draußen kaum nachgekommen mit den von Anwälten weitergereichten Lieferungen herrlich duftenden grünen Marokkaners oder schwarzer Afghan-Platten. Wir alle hatten uns allerdings auf die Devise der Black Panthers geeinigt: kein Kiffen während Aktionen. Leider hatte sich diese nicht gerade revolutionäre Tätigkeit in Amsterdam etwas hingezogen, trotz des umfangreichen Angebots fand ich nicht gleich das Richtige – und verpasste den letzten Zug zurück nach Deutschland.
Kein Problem. Die Rote Armee Fraktion, Weltmeister in Sachen Logistik, hatte zu diesem Zeitpunkt mindestens zwanzig Wohnungen in Europa, davon einige in Amsterdam, davon wiederum kannte ich eine, inklusive dem Versteck des Schlüssels. In gewisser Weise frohlockte ich sogar: endlich mal wieder ein ruhiger Abend ohne Gruppe und ohne Diskussionen, wie alles nach dem Desaster in Mogadischu4 und Stammheim weitergehen sollte. Ich fühlte mich nicht wohl mit unserer Propagandalüge, Baader, Ensslin und Raspe seien von den Geheimdiensten ermordet worden, obwohl wir in der Gruppe selbstverständlich von Selbstmord sprachen, schließlich hatten wir ihnen ja die Waffen ins Gefängnis geliefert. Aber warum waren diese bei den doch unübertrefflich scharfen Razzien nicht gefunden worden? Also, klar war da nichts, und ich konnte jetzt endlich ganz in Ruhe allein für mich über all diese Dinge nachdenken. Der Muff der Wohnung störte dabei nicht. Den merkwürdigen Geruch führte ich auf meine durch die vom Proberauchen beim Haschischkauf erzeugte Übersensibilität zurück, denn es war wirklich ausgezeichnetes Zeugs, das ich gekauft hatte, nach zwei Zügen war ich richtig gut stoned.
Doch kaum hatte ich es mir bei einem Glas Tee und einer Zeitung gemütlich gemacht, klingelte das Telefon. Ich stutzte – eigentlich wusste nur ein Mensch, dass ich in dieser Wohnung war, nämlich Cressida, aber mit ihr hatte ich doch eben erst telefoniert, um ihr zu sagen, dass ich über Nacht hier blieb –? Dann musste es arg dringend sein!
Am anderen Ende meldete sich ein Mann – zum Glück erkannte ich ihn: Es war Gert Schneider, der andere Neue, gerade mal eine Woche länger als ich in der Gruppe. Ich war ein wenig neidisch auf ihn gewesen, weil er zur Ausbildung in ein Palästinenserlager im Irak geschickt worden war, was ich mir viel spannender vorstellte, als hier die langweiligen Passgeschichten zu regeln.
»Charly hat Krebs«, kam er sofort zur Sache, »ich muss Zeugs gegen seine Schmerzen besorgen, der lebt nicht mehr lang.«
Diese Information war ein Schock. Charly hatte Krebs und schon so weit? Wie furchtbar – ein weiterer Schlag. Ich hatte ihn nur einmal getroffen, aber wir hatten uns durchaus verstanden, zumal auch er einen guten Joint liebte.
Nachdem Gert gekommen war, beschlossen wir, als Erstes Cressida von dem neuen Tiefschlag zu informieren und dann lecker essen zu gehen, ich wusste ein gutes Lokal in der Nähe. Da es nach den Gesetzen konspirativen Handelns verboten war, von einer Wohnung in die andere zu telefonieren, mussten wir eine Telefonzelle suchen. Für den Weg trat ich ihm meine Handgranate ab, damit er nicht wehrlos herumlief, denn ins Flugzeug nach Amsterdam hatte Gert natürlich keine Waffen mitnehmen können. In der Regel war jeder mit einer Pistole und einer Handgranate ausgerüstet, wenn er auf die Straße ging – es war allerdings noch nie eine Handgranate gezündet worden.
»Hab ich gestern noch geübt«, sagte er lachend und steckte sie ein. Es gehörte zu den täglichen Übungen eines Stadtguerilleros, die Fingermuskeln zu stärken, um den Bügel einer bereits entsicherten Handgranate möglichst lange angespannt halten zu können, falls es in einer bedrohlichen Situation einmal nötig werden sollte. »Richtig im Sand robben und dann über eine Düne werfen«, erzählte er amüsiert von dem Leben im Palästinenserlager – ansonsten schien der Alltag in der Wüste jedoch nicht so spannend zu sein, eher eintönig sogar; allzu viel hatte ich offensichtlich nicht verpasst. Auf dem Weg zur Telefonzelle berichtete er vom schrecklichen Zustand Charlys, der so furchtbare Schmerzen habe, dass er härteste Betäubungsmittel brauche, am besten Morphium und Heroin. Ich war zwar ebenso scharfer Gegner aller Suchtdrogen wie ich Befürworter von Cannabis war, aber wenn es darum ging, jemanden den Tod zu erleichtern, gab es da nichts zu diskutieren.5
Kurz vor dem Restaurant fanden wir eine Telefonzelle. Cressida war sofort am Apparat und von der Nachricht schockiert – ich wusste, dass sie Charly mochte und unterstellte ihr, dass sie eifersüchtig auf Luisa war, weil diese seine aktuelle Freundin war, aber das alles spielte in dieser lebensbedrohlichen Situation keine Rolle mehr.
»Brauchen Sie noch lange?«, fragte jemand durch die nur einen Spalt geöffnete Tür der Telefonzelle.
Ich diskutierte gerade mit Cressida, wie und wo wir am schnellsten und sichersten Stoff für Charly bekommen könnten, und Gert, der seitlich hinter mir gegenüber der Tür stand, wiegelte ab: »Wir sind gleich fertig.«
»Hände hoch!« –
Ich fuhr herum und sah Mündungsfeuer aus einer auf Gerts Bauch gerichteten Pistole, während die Tür der Telefonzelle aufgerissen wurde und dahinter eine vermummte Gestalt brüllend und mit ihrer Waffe irre fuchtelnd um sich schoss, aber bis ich meine Sig Sauer gezogen hatte und zurückschießen konnte, spuckte die Pistole vor Gerts Bauch bellend eine zweite Ladung in ihn, und während er zusammenbrach, flog die Angreiferpistole in hohem Bogen durch die zersplitternde Glastür der Telefonzelle und die beiden Schützen zogen sich zurück – ich stürmte heraus – sah mich einem Halbkreis aus knallendem Feuerwerk umgeben, das ich ziellos um mich schießend zu erwidern suchte, doch –
meine