Onkel Otto und mein Opa hatten sich vorher noch nie gesehen und redeten nun zum ersten Mal miteinander.
»Da zieht man extra ans andere Ende der Welt, um Ruhe vor den Nazis zu haben«, sagte mein Opa und schmauchte heftig, »und von wem wird man dort empfangen?«
Onkel Otto, der neben mir und vor meinem Opa saß, lächelte und nickte. »Ja«, sagte er, »sie sind überall und es geht ihnen gut.«
»Dabei«, fuhr mein Opa fort, »leben in Norte16 die meisten deutschen Juden, die es geschafft hatten! Deshalb bin ich ja dorthin.«
»Deshalb sind die Nazis ja auch dorthin«, versetzte Onkel Otto, wandte seinen Kopf nach hinten, bis es nicht mehr ging, und sagte: »Die Nazis können ohne die Juden nicht leben, das ist doch das Problem.« Er drehte sich wieder nach vorne und um seine Lippen kräuselten sich in seinem sowieso schon sehr zerfurchten Gesicht weitere zitternde, heruntergezogene Falten.
»Lasst doch diese Gespräche«, sagte meine Lieblingstante Yella. »Was soll der Christof denn denken?«
Ich dachte nichts, aber es war alles wahnsinnig spannend.
1957
Auf dem Eselsberg bei Ulm wohnten Inge17 und Otl18. Sie waren Freunde meiner Eltern, hatten viele gleichaltrige Kinder, und wir fuhren oft sonntags dorthin. Es gab immer selbstgemachten Kuchen und alle waren fröhlich.
Inge war wie eine Heilige, sanft und entrückt. Ihre Geschwister waren von den Nazis umgebracht worden. Sie hatten sich »Weiße Rose«19 genannt.
Otl war sehr lustig und machte gerne Quatsch mit uns Kindern. Er war Professor an der Uni auf dem Eselsberg20, die man von dem Haus der Aicher-Scholls aus sehen konnte. Alle Gebäude waren weiß und strahlten.
Die Fenster sahen merkwürdig aus, nicht normal rechteckig, sondern klobig viereckig. Ich fragte Otl, warum die Fenster so dick seien und brachte ihn damit zum Lachen. Dann erklärte er mir ganz viel, von dem ich nur verstand, dass die normalen Fenster »unmenschlich« seien. Das erschreckte mich, denn dann waren ja fast alle Fenster auf der Welt unmenschlich!
Da lachte Otl nicht mehr und nickte: »Das ist ja das Schlimme! Die Menschen müssen endlich umlernen!«
Die Volksschule, auf die ich ging, war ein Backsteinbau aus quadratischen Klassenzimmern, von denen jedes seinen eigenen Garten hatte, nur durch eine Glasscheibe vom Boden bis zur Decke getrennt. Sie war nur zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt. Es herrschte eine helle, freundliche Atmosphäre in diesen Räumen, ich war gerne dort und es war spannend zu lernen. Außerdem gab es ein wunderschönes Mädchen, Susi, die ich später heiraten wollte. Zusammen mit meinem Freund Rolf, der zwei Häuser neben uns wohnte, ging ich jeden Morgen hin.
Vor der Schule holte ich bei dem Bäcker, dessen Laden im Parterre unseres Hauses lag, frische Brötchen, manchmal durfte ich sogar ganz alleine im Milchladen in der nächsten Querstraße Milch holen und sie meinen Eltern ans Bett bringen. Mein Vater freute sich sehr darüber und bedankte sich in wohlgesetzten Worten bei mir: »Das haben Euer Ehren aber aufs Vorzüglichste erledigt – welch außerordentliche Labsal!«
Dann verneigte ich mich und sagte: »Ich bin der schnellste Milchmann der Welt!«
»Ja«, sagte mein Vater, »wenn alle Menschen so wären, lebten wir im Paradies!«
1958
Nach dem Tod meines Vaters wohnten meine Schwester Sabine und ich lange in England bei meiner Tante Gaby, der Schwester meiner Mutter, ich durfte sogar Schule schwänzen. Sie lebte mit ihrer kinderreichen Familie in einem englischen Landhaus. Von dort aus besuchte ich so oft es ging Yella und Otto, die in einem Vorort von London lebten.
Die Häuser sahen ähnlich aus wie in Amsterdam, wie zu große Spielzeughäuser mit hölzernen, geschwungenen Fensterläden, die schmale verzierte Leisten hatten. Alle Häuser hatten ganz kleine Gärten. Das Haus der beiden war voll mit schönen alten Möbeln, die wie geschnitzt aussahen, in allen Zimmern waren die Wände bis unter die Decke vollgestellt mit Büchern. Vor dem Wohnzimmer gab es einen kleinen Wintergarten, von dem aus man in das mit Brombeeren und anderen süß-sauren grünen Beeren und Blumen vollbewachsene Gärtchen sehen konnte.
Dort saß ich mit Onkel Otto an einem kleinen Tisch mit geschwungenen Eisenfüßen und er brachte mir, obwohl Yella ihm das verboten hatte, das Rülpsen bei. Man musste nur etwas Luft schlucken und dann die geschluckte Luft herauspressen – und schon war es ein Rülpser! Für jeden gelungenen Rülpser bekam ich einen Penny, große dunkelbraune Münzen, aus denen ich einen Turm baute. Onkel Otto lachte sich jedes Mal krumm und schief, wenn ich es geschafft hatte, und sein zerknittertes Gesicht wurde noch zerknitterter. Bald war der Anreiz, ihn zum Lachen zu bringen, größer, als weitere Pennys zu verdienen.
»Warum kommst du nie nach Deutschland?«, fragte ich ihn einmal, weil ich das schon lange fragen wollte.
Onkel Otto dachte nach. »Wenn ich dir das jetzt erkläre, würde Yella sagen, du seist noch zu klein dafür. Aber du bist schon groß, du verstehst das!«
Meine Brust schwoll – und meine Ohren.
»Du siehst die vielen Bücher hier«, fuhr Onkel Otto fort und zeigte auf die rundum mit Büchern überladenen Regalwände.
»Ich liebe Bücher«, platzte es aus mir heraus, ich konnte nämlich schon lesen und schreiben.
»Gut so«, sagte Onkel Otto, »ohne Bücher kann man nicht leben.«
Ich nickte heftig, ich liebte auch Onkel Otto.
»Ich habe auch Bücher geschrieben«, setzte er seine Erklärung fort, »und als wir noch in Deutschland lebten, wurden sie dort gedruckt und verkauft. Aber dann kamen die Nazis an die Macht und verbrannten sie.«
Ich war wie vom Donner gerührt. »Aber warum?!«, rief ich. »Bücher sind doch was Tolles!«
»Weil wir Juden sind«, antwortete Onkel Otto. »Deswegen sind wir dann nach England umgezogen und haben englische Namen angenommen.«
Da war es wieder! Die Nazis21 und die Juden. Immer wieder kam das.
»Nach jüdischer Tradition bist du auch Jude«, sagte Onkel Otto lächelnd, »weil deine Mama, deine Oma, deine Uroma alle Jüdinnen waren – aber das ist gleichgültig heute, das zählt heute nicht mehr.«
»Aber warum kommst du dann heute nicht nach Deutschland?«, insistierte ich auf meiner Ausgangsfrage. »Das ist doch alles vorbei?!«
Onkel Otto lächelte traurig. »Ich hab es ja versucht«, sagte er.
Ich sah ihn fragend an.
»Eigentlich wollte ich nie mehr nach Deutschland«, begann er seinen Bericht, »aber Yella hatte so lange mit mir geredet, bis ich mich überzeugen ließ: Ihr alle unsere nächsten Verwandten lebt dort, die Nazizeit ist überwunden, wir müssen nach vorne sehen und nicht immer an die Vergangenheit denken. Es hat keinen Sinn, die Deutschen auf immer und ewig wegen der Hitlerzeit zu verdammen, man muss ihnen eine Chance geben. Ich war zwar skeptisch, denn man hörte auch viel Schlechtes aus Deutschland, aber ich wollte keine Vorurteile haben, Yella hatte recht: Man muss offen für Veränderung sein.«
Er hielt inne und sah zum Fenster hinaus. Ich saß mucksmäuschenstill da.
»Also packten wir unsere Koffer«, fuhr er fort und sah ernst aus, »setzten uns ins Auto, schifften mit der Fähre aufs Festland, fuhren durch Holland und überquerten tatsächlich bei Aachen die deutsche Grenze. Die Sonne schien, die Menschen waren freundlich und wir mussten bei der ersten Tankstelle in Deutschland Benzin nachfüllen. Der Tankwart, ich erinnere mich genau, war noch ein junger Mann, hatte eine blaue Kappe auf dem Kopf, und trug eine weit schlackernde braune Kordhose. Nachdem er gesehen hatte, dass wir eine englische Autonummer hatten, fragte er zunächst, ob wir deutsch sprechen und als ich bejahte, fragte er nach den Benzinpreisen in England. ›Hab’s mir fast gedacht‹, sagte er mit einem bitteren Lachen, nachdem ich geantwortet