Tickeditack, sie verrinnt.
Hanna betrat die Station und glaubte, es sei das Orchester der Kranken, das so verstimmt die Flure in Besitz nahm. Sie glaubte an das Klammern der Todesnahen, an krallende Finger in weißbekittelten Unterarmen. Tun Sie doch was, helfen Sie, ich habe Schmerzen, bekomme keine Luft, habe Angst Angst Angst.
Sie brauchte zwei Monate, um die Quelle der quälenden Töne zu entdecken. Auf dem Flur stritt ein Angehöriger mit der Oberschwester, also ging sie in den Lagerraum für die medizinischen Hilfsmittel, um sich auf das Diktat der Arztbriefe konzentrieren zu können, und schloß die Tür hinter sich. Es fiepte, kreischte und dröhnte um sie. Sägen quietschten über Metall, in Röhren jaulte der Misston. Sie sah sich um, aber da war nur ihr Arbeitsgerät, steril verpackt, systematisch gelagert. Kanülen, Spritzen, Klistiere für die Verstopften, Windeln für die Inkontinenten, künstliche Darmausgänge. Starr saß sie da, wollte nach Mutter und Schwestern rufen, die abdecken, raustragen sollten.
Aber niemand kam, niemand half. Ihre Brust wurde eng, ihr Atem flach. Sie verließ rückwärts den Raum, schloß die Tür und horchte. Auf dem Flur baumelte ein einsamer Galgen über dem Bett einer Verstorbenen. Die zu zwei Dritteln geleerte Infusionsflasche sang wie ein Xylophon, durch das der Wind zog. Sonst war es still. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und fauchender Lärm stürzte auf sie ein. Sie stieß sie wieder zu und lehnte sich dagegen.
Hanna war gebürtige Berlinerin und also an pragmatische Umgehungslösungen gewöhnt. Sie mied das Ersatzteillager, schickte Schwestern und Pfleger und schrieb ihren Verwaltungskram in der Besenkammer. Aber sie wurde empfindlicher. Jedes Krankenzimmer dröhnte lauter, von Monat zu Monat. Es war, als ob die Infusionsbestecke, die kreischenden, kopfüber hängenden Infusionsflaschen, die vollgebluteten, eitrigen Verbände sie verhöhnten. Sie alle waren bei guter Stimme und Hanna kaufte sich Gehörschutz.
Sie bat um Versetzung, warf all die Jahre in die Waagschale, in denen sie nun schon, bei schlechter Bezahlung, ihre Lebenszeit drangab. Man lächelte verständnisvoll, na ja, die Innere II, und versicherte, sein Bestes zu geben, einen Ersatz zu finden.
Sehr wahrscheinlich.
So hangelte sie sich von Tag zu Tag, Woche zu Woche, immer müder, immer weniger in der Lage, einen Ausweg zu sehen jenseits der Geschlossenen. Sie wurde gereizt und aggressiv. Ihre zunehmenden Ausfälligkeiten und beißenden Kommentare hielten ehrfürchtige Patienten für Kompetenz. Bis Hermine Neuhaus auf ihre Station kam und Hanna nach achtundvierzig Stunden Dienst und also Dauerbeschuß einer Schönbergsinfonie, die auf Endlosschleife gestellt war, am Ende war wie noch nie in ihrem Leben. Der Pfleger Christian schob sie hinein, ein weicher Mann, dessen Mitgefühl um einige Kubikmeter zu groß war für seine Arbeit und der sich mit Cannabis die Erkenntnis vom Leib hielt, daß er besser umschulen sollte. Wie durch einen Tunnel sah Hanna, daß Christian außerordentlich sanftmütig mit der Kranken umging. Er stoppte vor Hanna, die Mühe hatte, in dem riesigen Krankenhausbett das kleine Vögelchen zu entdecken, das sie aus braunen Äuglein ansah.
»Das ist Hermine«, sagte er, »und sie möchte bei uns sterben.«
Jakob öffnete das quietschende Tor zur Kolonie Edelweiß. Er sah sich um. Kein Wegweiser, nur Hecke rechts und Hecke links. Sorgsam schloß er das Tor und folgte dem Weg.
Die Lebensgefährtin von Heinz Schuman fand, er könne die Laube gar nicht verfehlen, es sei die mit dem höchsten Fahnenmast und dem größten Berliner Bären darauf. Er versuchte, die Dächer der Häuschen zu erkennen. Alles eingeschossig. Umrahmt wurde die Schrebergartensiedlung in drei Richtungen von den Rückseiten der Gartenhäuser. Fünf Stockwerke anno Anfang zwanzigsten Jahrhunderts, dazwischen sorgsam gestutzte Obstbäumchen laut Nutzgartengebot. Nur hier und da ragte ein einzelner Laubbaum weit über seine Nutzgeschwister hinaus. Bestandsschutz. Mindeststammumfang anfüttern und draußen waren die fällsüchtigen Gartenfreunde.
Keine Fahnenstange weit und breit, nur Wetterhähne und Dachpappe. Jakob sprang hoch, um weiter gucken zu können.
»Wat suchen se denn?« Auf ihren Unkrautjäter gestützt stand eine dicke Frau im dicken Pullover auf dem schmalen Weg zwischen ihren strotzenden Rabatten.
»Den Schuman, Tagchen, wissen Sie, wo der seine Laube hat?«
»Kenn’ ick nich’, wer soll det sein?«
»Hat ’ne große Bärenfahne, hat’s mit dem Rücken und ist Kommissar. Ich bin sein Kollege.«
»Ach, die Stimmungskanone. Na, wenn der’s mit dem Rücken hat, bin ick Mutter Theresa. Sticht gerade Spargel, falls Ihnen das was sagt.« Sie deutete mit einem Arm vage den Weg runter. »Immer weiter, und dann linke Hand, ist nicht zu verfehlen, hat als einziger ein blaues Tor. Herthafan, die arme Sau.«
Jakob genoß den von trompetenden Maivögeln besungenen Weg zum blauen Tor. Er sah Schuman zu, wie er gebeugt die Spargelstangen freilegte. Kraftvoll stieß er den Spargelstecher in die Erde, sanft legte er die Stangen in den Korb. Jakob öffnete das jaulende Tor und Schuman richtete sich auf.
»Was willst denn Du hier? Schickt Dich der Chef, um zu gucken, was meine Diensttauglichkeit macht? Kannst gleich wieder gehen. Untauglich, sagt mein Doktor. Und wenn Du mich fragst, kann das auch noch ’ne Weile so gehen.« Er deutete um sich. »Hier gibt’s jede Menge zu tun.«
»Freut mich auch, Dich zu sehen«, sagte Jakob. »Hast Du keinen grünen Spargel?«
»Sag’ nicht, daß Du Dich damit auskennst, Du Schlaumeier. Ich hab’ zwar nicht studiert, aber von Spargel verstehe ich mehr als Du.«
»Immerhin weiß ich, daß er nicht auf Bäumen wächst.«
»Sehr beeindruckend.«
»Können wir uns nicht irgendwo setzen? Dann kann ich Dir auch sagen, warum ich hier bin.«
Schuman schaufelte gemächlich das letzte Loch zu, streifte sich die Hände ab und ging zur Laube. Von der Terrasse nahm er einen Stuhl und stellte ihn Jakob auf den Rasen davor. Er selbst blieb stehen, lehnte sich an die holzverkleidete Umrandung der Terrasse und verschränkte die Arme.
Jakob setzte sich. »Sarah Schubert, erinnerst Du Dich?«
»Die Ex-Prostituierte mit dem feinen Pinkel aus Schlachtensee als Mann? Sicher erinnere ich mich.«
»Focke hat mir den Fall gegeben.«
»Na, da haste ja nicht mehr viel zu tun. Zeit für die Lorbeeren.«
»Und was meinst Du, wer es war?«
»Hast Du die Akte nicht gelesen? Ich denke, Du bist so eine Leseratte, sind meine Texte nicht gut genug? Der Alte natürlich. Verstrickt sich bei den Befragungen ständig in Widersprüche, war nervös wie eine Jungfrau auf dem Abschlußball.«
»Aber er hat ein Alibi. War er nicht in den USA zu einer Tagung?«
»Ja, ja, der Herr Physiker, schlauer Typ, aber nützt ihm nix. Klar hat er das nicht selbst gemacht. Aus dem Milieu hat er sich wen geholt und ist dann ab nach Amerika. Du hast doch gesehen, wie die Alte zugerichtet war? Klassische Milieukarriere. Die Brandwunden, der zerlegte Unterleib, der gefälschte Ausweis, ist doch sonnenklar. Er hat sie da rausgeholt, der feine schlaue Pinkel. Irgendwo in Westdeutschland, wenn Du mich fragst. Hat ihr ein schickes Häuschen in Berlin gebaut und gedacht, die Vergangenheit liegt irgendwo hinten und stört nicht weiter. Und nach ein paar Jahren hatte er sie satt, oder sie hat nicht gespurt. Also ist er zurück ins Milieu und hat zugesehen, daß er sie los wird, mit überschaubaren Kosten, trennen wäre teuer gekommen.«
»Hast Du für all das Beweise, die ich noch nicht kenne?«
»War der nicht im Norden irgendwo, bevor er hierher kam? Haben die sich da nicht kennengelernt? Das einzige, was noch fehlt, um ihn festzunageln, ist der Auftragnehmer. Ich tippe mal Hamburg. Kann doch nicht so schwer sein, den zu finden, nicht mal für Dich.«
»Und was ist mit der Tätowierung?«
»Milieu,