»Und hat sie Gesellschaft bekommen?«
»Das liegt an meinem Beruf. So viele Tote.«
»Und die besuchen Dich?«
»Sie wollen, daß ich mich um ihre Tode kümmere. Wenn der Täter mir sagt, wie genau es war, als sie starben, dann gehen sie.«
»Schöner Beruf. Es ist, als ob Du den Raum schaffst, daß die Geschichte zuende erzählt wird.«
Jakob lächelte. »Das stimmt. Du bist die Erste, die das versteht.«
»Das ist kein Kunststück. Ich bin eine alte Frau und wenn ich jetzt immer noch nicht wüßte, worauf es ankommt, wann dann?«
»Hast Du viele Tote um Dich?«
»Eine niedliche Frage. Ich bin zu alt, mich mit Scharen von Lebenden zu umgeben. Die meisten Plätze in meiner Nähe sind besetzt. Außerdem habe ich als Kind schon so viele Tote gesehen.« Sie schwieg lange. »Deren Geschichten erzählt niemand zuende.«
»Aber es waren keine gewaltsamen Tode? Kein Aufeinandertreffen zweier Menschen, von denen nur einer weiterlebt?«
»Der Tod ist immer gewaltsam, junger Mann. Außerdem gibt es im Krieg keine natürlichen Tode, lebenssatt, wie es in der Bibel heißt. Lebensmüde höchstens, und ansonsten gewaltsam. Aber laß uns über anderes reden, meinen alten Geistern bin ich heute nicht gewachsen.«
»Tut mir leid, das wollte ich nicht.« Jakob legte seine Hand auf ihren Unterarm.
»Dafür kannst Du nichts, also entschuldige Dich nicht schon wieder. Und nimm Deine Augen von meiner Seele.« Sie zog sich frei. »Erzähl’ lieber von Dir, arbeitest Du wieder?«
»Mein Chef hat mir einen Fall gegeben.« Jakob zögerte. »Es könnte eine Falle sein. Er kann mich nicht ausstehen.«
»Na und? Ein Feind fordert Dich zum Duell auf. Du weißt, daß falsch gespielt wird, also warum nimmst Du den Kampf nicht an?«
Jakob starrte sie an.
»Was hast Du zu verlieren? Zu viel für die Waagschale?«
Jakob schwieg. Meine Arbeit, mein Leben, nicht viel.
Grete brachte die Kaffeetassen scheppernd zur Spüle, nahm aus dem Schrank zwei Schnapsgläser, aus dem Kühlschrank eine Flasche Eierlikör und kehrte zum Tisch zurück. Sie schüttelte die Flasche mit beiden Armen, daß ihr alter Körper bebte, schenkte ihnen ein, leerte ihr Glas mit nach hinten gebogenem Kopf und schleckte die Reste aus dem Glas von ihrem kleinen Finger.
»Weißt Du, was mich bei Deiner Generation nervt? Ihr lebt, als müßtet Ihr Euch schonen. Was immer Ihr tut, Ihr könntet es auch lassen, welchen Weg Ihr einschlagt, es könnte auch die Gegenrichtung besser sein. Sicher kann einen das kirre machen, aber wenn Ihr ewig überlegt, ist Euer Leben vorbei.« Sie bot Jakob an, aber der hatte sein Glas nicht angerührt. Stattdessen goß sie sich selbst ein. »Ihr seid wie Schachspieler, die alle Züge glauben überdenken zu müssen und deshalb nicht vorankommen. Hört Ihr die Uhr nicht ticken?« Sie kippte den Eierlikör in den Rachen, gefolgt von schmatzenden Aufräumarbeiten mit dem Finger. »Was ist, Jakob, wenn Du so alt bist wie ich und hast immer nur acht gegeben? Du wirst trotzdem schrumpelig werden und wie durch einen Tunnel hören.« Sie griff nach seinem Glas. »Daß Du ein besonderer Mensch bist, zeigen Deine Geisterbesucher. Das ist eine Ehre, aber ich sehe schon, das weißt Du. Werde dieser Gabe gerecht, greif’ mit beiden Händen ins Leben, riskiere alles, ruiniere Dich. Wirst sehen, fühlt sich gut an.«
»Ist Unentschiedenheit dem Herzen nah, so muß der Seele daraus Bitternis erwachsen.« Er lächelte. »Ich habe noch nie gezögert.«
Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Dann entschuldige. Falscher Adressat. Manchmal überkommt es mich einfach.«
»Und Hanna?«
»Sei gut zu ihr, sonst gibt es Probleme mit mir und meinen Toten.«
»Für sie ist noch Platz zwischen ihnen?«
»Und ob, sie hat den Thron.« Grete zog die Flasche heran und schenkte sich ein. »Ich werde ihr sagen, daß Du hier warst. Komm’ bald wieder, vielleicht brauchst Du für den Kampf um Deinen Beruf und die nicht zuende erzählten Geschichten einen Außenposten, wir haben Platz genug. Und jetzt mach’, daß Du rauskommst, ich glaube, die alte Grete will sich die Kante geben und für Zuschauer bin ich nicht mehr schön genug.«
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