Fallsucht. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611012
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Der plötzliche Schwall von oben erschreckte ihn, der Klang des Rauschens war verschoben. Etwas zu sehr Dur, eine Oktave zu hoch. Er versuchte sich Frühstück zu machen, schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und erschrak, als sie hochsprangen. Als er sie fassen wollte, ging ein Surren von ihnen aus, als stünden sie unter Strom. Er fragte sich, ob die Röstung die Moleküle zum Tanzen brachte. Er aß sie trotzdem.

      Er brauchte länger für alles. Oder die Zeit war neuerdings schneller, als er es gewohnt war. Als er den Telefonstecker in die Dose steckte und seinen Anrufbeantworter abhörte, war es schon Mittag. Alles schimpfte. Sein Chef umgab den Satz »So-geht-das-nicht-das-sag’-ich-Ihnen« mit wortreichen Wutausbrüchen. Das Krankenhaus hatte vier Mal angerufen. Erst der Pfleger, der sich erkundigen wollte, ob er angekommen sei, dann, vermutlich nach Schichtbeginn, der Arzt, der atemlos irgendetwas in Jakobs Ohr müllte von unerhört, Autorität anzweifeln, wer die Verantwortung trüge. Na, ich natürlich, wer sonst, dachte Jakob, und löschte ihn. Danach bat die Rechnungsstelle um Rückruf, durch seinen Abgang gäbe es Unklarheiten bezüglich der Abrechnung. Hurtig, dachte Jakob, und löschte. Zwei Nachrichten von Oskar, die erste gehetzt, die zweite warm und voller Sorge.

      Er hatte ihn sogar Dicker genannt, das war lange her. Was Oskar wohl zu den tanzenden Molekülen im Toast sagen würde? Jakob würde ihn für heute Abend einladen. Morgen war besser. Übermorgen. Ja, viel besser. Erst mal üben, all die neuen alten Dinge. Oskar würde das schon verstehen, daß er Zeit bräuchte. Oskar verstand alles. Fast alles.

      So war er schließlich zwei Wochen nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht telefoniert. Als er wieder in der Dienststelle auftauchte, hatte Oskar alle Angriffe abgewehrt. Seit seinem letzten Einsatz war Jakob krankgeschrieben, der Bericht verschoben und ihr Chef einigermaßen beruhigt, Wladimir saß in Untersuchungshaft. Trotzdem hagelte es »So-geht-das-Nichtse«. Jakob ließ sie auf sich herabsausen und dachte an den alten Mollton seiner Dusche. Er vermißte ihn.

      Beim Polizeiarzt sollte er sich melden, die verbliebenen Schäden begutachten lassen und von seinem Hausarzt eine Prognose der Dauer seiner Krankmeldung erstellen lassen. Oskar hatte ihm wie erbeten die Akten auf den Schreibtisch gelegt. Nach einer Stunde, die ihn mehr Kraft gekostet hatte als die letzten zwei Wochen, verließ er die Dienststelle mit den Akten und fuhr zurück in seine Wohnung.

      Er arbeitete sich in alles ein, was seine Kollegen ermittelt hatten. Las jede Zeugenaussage, die Ergebnisse der Kriminaltechnik, der Rekonstruktion am Tatort. Er verstand alles. Bis zu den Sternschnuppen.

      Danach hatte Wladimir ihn angeblich niedergestreckt (womit?), er war gestürzt (worauf?), Wladimir ihm hinterher, um ihn zu würgen (sicher nicht). Und Wladimir hatte seine Dienstwaffe gehabt. Keiner der Zeugen sagte einen Mucks dazu. Oskar hatte dem Buschfunk abgelauscht, daß die internen Ermittler auf Jakobs Seite wären. Die Internen wollten darauf hinaus, daß er sie ihm beim Kampf, nachdem Jakob bewußtlos war, abgenommen hatte. Das klang nach seinem Chef, ein echter Focke. Ein verlockender Ausweg. Nur leider nicht wahr. Finge man so etwas einmal an, war man ein erpressbarer Kollege. Er würde bei der Wahrheit bleiben, so schlimm war die auch nicht. Die Fensterbank war in Ordnung, mit Waffe wäre er gar nicht ins Lehrerzimmer gekommen. Nur geladen war sie leider. Ein unglaublicher Lapsus. Na gut, passiert war passiert. Keine Folge war so schlimm, daß man lügen mußte.

      Jakob saß in sattroten Ledersitzen, ein Aktenpaket auf dem Schoß und sah aus dem geöffneten Dach. Der Sommer konnte es kaum erwarten. Anfang Juni waren alle Bäume saftig grün. Nur die Dachgeschosse der alten Buchen zögerten noch. Die junge, ihm zugeteilte Kollegin Tanja Wehland fuhr angenehm, obwohl sonst ausschließlich Rad. Der Kollege in der Fahrbereitschaft hatte Jakob zwinkernd einen beschlagnahmten BMW Roadster gegeben, knallgelb. Die ersten Schaltungen nahm sie etwas rauh, aber seitdem sie die Avus auf der rechten Spur überlebt hatte, fuhr sie entspannter.

      »Hier sind dreißig, Kollegin Wehland«, sagte er, nachdem sie inmitten von Vogelgezwitscher auf der Havelchaussee immer noch brauste, als gälte es, an der nächsten Ampel, die immerhin gut acht Kilometer entfernt war, die erste zu sein. Sie drosselte sofort die Geschwindigkeit und Jakob roch das platzende Leben ringsum. Wald rechts bis zum Horizont, Wald und Wasser links, was brauchte man mehr als Metropoleneingeborener. Tanja hatte ihm gestanden, daß sie vor einigen Wochen ausgerechnet seinetwegen nach Berlin gekommen war, zum einzigen anständigen Kriminaler der Republik. Na ja. Aufrecht, aber auf die Nase fallend neuerdings.

      »Da vorne an der Bushaltestelle müssen wir links rein«, sagte Jakob nach einigen verschwiegenen Minuten.

      »Ich sehe aber keinen Weg.«

      »Fahren Sie auf den Parkplatz. Dann am Uferweg entlang.«

      Nachdem sie eingebogen waren, starrte Tanja über die Havel. Nach einer ehrfürchtigen Pause ließ sie das Wasser links liegen und schaukelte über eine Sandpiste, verfolgt von mißbilligenden Blicken einiger Fußgänger.

      »Halten Sie an, den Rest gehen wir zu Fuß.«

      Jakob hatte sich den Schlüssel aus der Asservatenkammer besorgt. Seit dem Mord im April letzten Jahres war die Hütte versiegelt, sehr zum Leidwesen des Vereins. Aber ein unaufgeklärter Mordfall war durch Anglerdepressionen nicht aufzuwiegen. Jakob ging zum Ende des Uferweges voran, bog in den Wald ab, klemmte sich die Akten zwischen die Knie und schloß das Tor eines zwei Meter hohen Maschendrahtzaunes auf. Gemeinsam stiegen sie weiter bergan durch ein überwuchertes, verbuschtes Gelände, umtost vom Konzert zahlloser Vögel in Frühsommerstimmung. Nachdem der Pfad durch dichtstehende Fichten geführt hatte, lag die Hütte vor ihnen.

      Jakob sah sich um, horchte und beschnupperte den Wald. Durch die Kiefern blinkte die sich in der Tiefe schlängelnde Havel. Er schloß auf, die Tür klemmte. Vorsichtig trat er ein. Es roch nach abgestandener Winterfeuchte und Holzschutzmittel, Staub und Spinnen. Tanja versuchte die Fensterläden von außen zu öffnen. Jakob stürzte zu ihr. »Nicht, die Fensterläden waren zu, als man sie fand.«

      Tanja ließ die Arme sinken.

      »Kommen Sie erst mal rein und machen sich ein Bild.« Tanja folgte mit schweren Schritten. Als sei sie Gummistiefel gewöhnt, dachte Jakob, der Waldboden kommt ihr entgegen. Er entzündete eine Kerze neben dem Eingang und schloß die Tür.

      Die schlechte Luft senkte sich auf die Atmung wie eine muffige Wolldecke. Jakob legte die Akten auf den Boden und zündete die übrigen Kerzen an. Er brauchte sieben Streichhölzer. Dicke und dünne in allen möglichen Farben erleuchteten ein Lager aus Kissen und sorgfältig drapierten Seidentüchern. In der Mitte lag eine Decke, dunkel gefärbt von altem Blut, daneben stand eine Flasche Schampus. Um die Flasche waren Teller mit noblen Häppchen verteilt. »Haben Sie die Asservatenkammer geplündert?«, fragte Tanja.

      »Sogar die Flasche ist original. Was halten Sie von all dem Aufwand, was von dem Ort?«

      »Keine Ahnung, eine Hütte eben.«

      Jakob seufzte. »Romantisch sind Sie eher nicht?«

      »Ich finde es nicht romantisch. Eher wie ein Verschlag, Verließ, ein Rattenloch.« Ihre Arme hingen schon wieder bedenklich.

      »Eine Frau mit Geld mietet ein solches Rattenloch?«

      »Warum nimmt sie sich kein Hotelzimmer? Irgendwas mit Sektkühler, Zimmerservice, Wellnesslandschaft, dicken Teppichböden?«

      »Gute Frage.« Jakob setzte sich auf das Kissenlager. Tanja senkte sich vorsichtig auf den staubigen Hüttenboden und achtete darauf, das Blut vom letzten Jahr Ostern im Blick zu behalten.

      »Sie hatte etwas zu verstecken«, sagte Jakob.

      »Ihren vernarbten Körper vielleicht? Dunkel genug ist es ja hier.«

      »Etwas, das die Natur nicht stört.« Jakob legte die Schampusflasche auf die Seite. »Etwas, das eher hierhergehört als in Luxushotels und nach Schlachtensee.«

      »Etwas für geschlossene Fensterläden«, sagte Tanja. »Es ist nicht das erste Mal, daß sie sich verbirgt.«

      »Sie meinen den gefälschten Ausweis?«

      »Ihr Mann war völlig verdattert, als er davon erfuhr. Er hielt das für ausgeschlossen.«

      »Menschen,