Fallsucht. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611012
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Du mit Hamburg schon was unternommen?«

      »Amtshilfe beantragt, im letzten Sommer. Bevor ich nachhaken konnte, trat meine Bandscheibe auf den Balkon.«

      »Sonst noch etwas, das ich wissen muß?«

      »Was sollte das sein, wie gesagt, alles so gut wie fertig. Bißchen blöd, wie lange das her ist, zugegeben, aber Focke hätte auch früher jemanden darauf ansetzen können. Warum der Dich eingeteilt hat, ausgerechnet jetzt, ist mir nicht ganz klar.«

      »Was soll das heißen?«

      »Na, Du bist ja auch krank und so.«

      »Vor allem und so.«

      »Krank ist krank. Darüber spottet man nicht. Du magst ja ein aufgeblasenes Arschloch sein, aber trotzdem bist Du krank.« Er holte sich einen zweiten Stuhl von der Terrasse und setzte sich neben Jakob. »Weißte denn schon, ob es für die Frühpensionierung reicht?«

      Jakob stand auf und brachte seinen Stuhl zurück. »Was ist eigentlich mit Deiner Fahne? Ich sehe nicht mal einen Mast.«

      »Ich sage nur Vereinsheim. Die Herren und neuerdings auch Damen der Kolonie Edelweiß haben abgestimmt. Sechsundvierzig zu eins. Die Fahne stört das Gesamtbild, daß ich nicht lache. Berlin ist auch nicht mehr, was es mal war.«

      »Ich muß dann. Wenn mir noch Fragen einfallen, komme ich wieder vorbei.« Jakob wandte sich zum Gehen.

      »Aber immer gerne, ich geh’ hier nur zum Schlafen weg. Meine Alte hatte auch schon mal bessere Laune. Dann lieber Spargel.«

      Natürlich ist das Krankenhaus ein Ort zum Sterben. An einem so großen Klinikum wie dem Hannas wurde praktisch täglich das Zeitliche gesegnet. Aber niemals, das ist ehernes Gesetz seit Urvater Dr. med. Abrahams Zeiten, niemals, weil der Patient es möchte.

      Es wird gestorben gegen den schweißtreibenden Einsatz von Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern. Gegen den Lebenswillen, das Nach-Luft-Japsen, Schreien um ein paar Tage mehr auf diesem überfüllten Planeten. Keine Qual ist zu groß, keine Erniedrigung zu tief, um nicht noch verlängert zu werden. Das Weitermachen, Gezerre an schon halb Entglittenen ist das Gesetz des Krankenhauses. Nach sieben Jahren an diesem Ort wurde Hanna, als sie in das Lächeln des zerknitterten Spatzengesichts von Hermine Neuhaus inmitten von gleißendem Weiß sah, plötzlich bewußt, was sie tat.

      Sie führte kein Konzert auf, befähigte niemanden, sein Leben zu führen, befreit von den Malaisen des Körpers. Das einzige, was sie tat, war, dafür zu sorgen, daß dieses Konzert nicht zuendeging. Die Platte hatte nahe dem Ende einen Sprung, der sie in einer scharfen Rille zum Anfang zurückführte. Alle Musiker waren betäubt von den immergleichen Akkorden und von steigender Angst erfüllt, was geschähe, wenn sie erschöpft zusammensänken. Die Dissonanzen, in die Hanna so quälend eingeschraubt war, sie waren die vertonte Angst des Orchesters, das mit aufgerissenen Augen spielte.

      Hanna hielt sich an Hermines Bett fest, hielt dem Blick stand, diesem alten, braunen Blick und verstand, daß alles nur auf die Angst zurückging, es könnte still sein.

      Und Hanna ersehnte nichts mehr als diese Stille.

      Jede zugeschlagene Tür war Folter. Jede sprechende Stimme, der brodelnde Autoverkehr, der Vielklang der U-Bahn, das Zwitschern der Spatzen, Knispern der Mäuse, alles zu viel, zu viel. Und jetzt zog Hermine Neuhaus in ihr Revier und wollte ihr die Stille bringen.

      Sie bekam das schönste Zimmer. Christian legte indische Tücher über Neonleuchten, Hanna saß an ihrem Bett, streichelte die kleine Hand, die so viele und vieles berührt hatte und lauschte auf das Leben, das da mit dürrem Knistern an ihr vorbeizog. Hermine war 94 Jahre alt, hatte ein pralles Leben im Gestern zu bieten und eine gesättigte Gegenwart. Niemand war mehr auf Erden, den sie schätzte, mit dem sie fühlte. Sie wollte heim zu ihren Lieben, je schneller, desto besser.

      Mit einer Darmblutung war sie eingeliefert worden, weil eine Apothekerin den Notarzt rief, als Hermine eine Großpackung Einlagen kaufte, um den Blutfluß aufzunehmen. Der Diensthabende hörte Hermine zu, die mehrfach wiederholte, das alles sei ein Mißverständnis, machte eine Darmspiegelung und bot ihr zwei Möglichkeiten an. Erstens Reparaturbetrieb. Sie hatte einen ausgewachsenen Darmtumor, vermutlich bösartig. Metastasen seien wahrscheinlich. Um die Blutung zu stoppen, würde man ihn entfernen. Zweitens, man entließe sie nach Hause, wo sie verbluten würde.

      Verbluten ist ein schöner Tod, sagte Hermine. Ich nehme die Zwei.

      Aber allein sein wollte sie nicht, ob sie nicht ein Eckchen für sie hätten, sie sei still, brauche nichts. Also landete sie, für einen Tag, höchstens drei, auf der Inneren II, der Endstation, bei Hanna.

      Aber der alte Körper versickerte nur langsam. Zu viel Leben mußte auslaufen. Hanna überzog ihren Dienst, hielt Hermines Kopf und ein Wasserglas an die trockenen alten Lippen, schwieg mit einem unverschluckbaren Kloß im Hals, als der Spatz sagte, es würde ihm eine Freude sein, Hanna ihre Tellerchen, Tiegelchen und Tässchen zu vermachen. Im Testament sei ihre Nachbarin begünstigt, die gute Seele. Einen schönen Gruß von Mine, dann würde sie ihr schon alles geben.

      Schließlich wurde Hanna vom sie ablösenden Kollegen unter Verweis auf die arbeitsrechtlich maximale Verweildauer von der Station geworfen. Der Spatz plusterte sich ein letztes Mal auf, reckte den Schnabel und tschilpte tapfer, das bringe er schon allein zuende.

      Hanna ging. Das war der größte Fehler ihres halb verstrichenen Lebens. Zuhause versuchte sie das Gefieder des Spatzen von ihrer wunden Seele zu schütteln. Sie lief durch die Straßen im eiskalten Berliner Februar, sah den träge trudelnden Schneeflocken hinterher und war zu müde, schlafen zu gehen.

      Die vorgeschriebenen 36 Stunden später war sie zurück. Eine renitente Leberzirrhose und ein Blutsturz forderten ihre ganze Aufmerksamkeit und so kam sie erst nach drei Stunden dazu, im Schwesternzimmer nach Hermine Neuhaus zu fragen. Deren Bett war abgeräumt, das Zimmer leer und so nahm Hanna an, daß sie verstorben war. In den Unterlagen war eine Verlegung vermerkt, was Hanna für einen Irrtum hielt. Eine erfolgreich erfolglose Reanimation an einem 86-jährigen Lungenkarzinompatienten sowie zwei Neuaufnahmen später sank sie erschöpft auf einen Stuhl und rief in der Leichenhalle an. Keine Neuhaus. Hermine hatte der Linoleumboden verschluckt.

      Kurz vor Hannas Schichtende kam Christian in Mütze und Stiefeln auf die Station. Besonders breit, besonders deprimiert, und schilderte, was geschehen war. Eine Großnichte Neuhaus hatte an der Pforte randaliert, lebensrettende Maßnahmen gefordert und mit Anzeige gedroht. Der neue, leider lebenserfahrungsfreie und sicherheitsverliebte Diensthabende war mit ihr zur Inneren gegangen, hatte die in die Bewußtlosigkeit gesunkene Patientin in Augenschein genommen, Blumenvasen und psychedelische Tücher mit Verachtung gestraft und gesagt, das sei ein Krankenhaus und kein Hospiz. Eine halbe Stunde später war Hermine in den OP geschoben worden, hatte ihr Rektalkarzinom verloren, war zwei Mal wiederbelebt und mit einer großen Kanne Blutplasma versorgt worden.

      Hanna spürte etwas in sich platzen, als sich im gleichen Moment die Fahrstuhltür öffnete und ein Krankenhausbett auf den Flur geschoben wurde. Hermines Schnabel war riesig, die Augen geschlossen, das Gefieder ausgefallen. Über dem Bett baumelte ein unverkennbarer Beutel, aus dem ein Schlauch führte und eine graugrüne Masse unter die Bettdecke, in die Reste des Spatzen entleerte.

      Sie hatten ihr eine Magensonde gelegt. Sie hatte klar ihren Willen geäußert, eine Patientenverfügung hinterlegt, sie lag im Sterben und sie hatten ihr dieses Sterben verweigert. Das Kreischen des Bettes schlug von Wand zu Wand. Die Magensonde quietschte höhnisch.

      Da lief es in Hanna über. Sie schrie und schlug um sich. Riss die Tür zu den Hilfsmitteln auf, warf Kanülen gegen Wände, zerfetzte künstliche Darmausgangspackungen, zerbrach Nährlösungsflaschen an Schränken. Griff Stühle und schleuderte sie den Flur hinunter. Trat gegen Spritzenkartons, zerschlug einen Mülleimer auf dem Tisch und stieg dann, mit einem Stuhlbein in der Hand, auf Hermines, inzwischen verlassen und verloren im Flur stehendes Bett zu. Sie riß die Decke hoch, sah die frische OP-Narbe, das hilflose Schamdreieck dieses fast hundertjährigen Spatzen, sah die kleine Brust sich müde, getrieben, getreten ins Leben, heben und senken, sah den Atem schwer gehen