Lena Halberg: London '05. Ernest Nyborg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernest Nyborg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783868411317
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zu leben. Sie kannte jeden Laden auf der zentralen Heath Road, mochte die Gespräche mit den Inhabern der Einkaufsläden und hatte ihre Lieblingslokale, wenn ihr einmal nach Zerstreuung war.

      Was ihr überdies an der Lage gefiel, war die Nähe zur M3, der Schnellstraße, die sie in wenigen Minuten aus der Stadt hinausbrachte, zu den gewundenen Landstraßen Südenglands, wo sie bei schönem Wetter gerne mit ihrer schnellen Rennmaschine, einer knallroten Suzuki GSX, unterwegs war. Diese stand jetzt gut verpackt in einem Schuppen unten am Fluss und wartete auf das Ende des Winters.

      Wenn es kalt war, duschte Lena gerne brennend heiß und nahm sich dann einen großen Pott starken englischen Tee. Das tat sie auch jetzt. Dann ging sie mit der Post hinauf ins Wohnzimmer, kuschelte sich mit der Pizzaschachtel in ihr Sofa und schaltete den Fernseher ein. Der lief ständig, wenn sie zu Hause war, meist nebenher ohne Ton, da Lena befürchtete, sonst wichtige Meldungen zu versäumen. Aber es gab ihr auch das Gefühl, nicht alleine zu sein.

      »Ruth hat recht, nach den Reaktionen auf die Sendung wäre es gut, bald etwas nachzuschieben«, murmelte sie und streckte sich.

      Lena war – nach Dusche, Tee und Pizza – auf dem Sofa eingeschlafen. Unterdessen war es zehn geworden und sie fühlte sich wieder voll Energie. Sie ging hinunter zu ihrem Schreibtisch in der Veranda. Sie arbeitete gerne nachts, da konnte sie sich am besten konzentrieren und kein Telefon störte. Also füllte sie Kaffee in ihre italienische Espressokanne und stellte diese auf die Herdplatte. Dann holte sie die hellgraue Mappe aus der Schreibtischschublade, die ihr Hawk im Sommer in Paris am Flughafen Charles de Gaulle in die Hand gedrückt hatte. Die beiden warteten dort, nach den Ereignissen um Bronsteen, die Lena dann in ihrer Reportage über die New Yorker Anschläge verarbeitete, auf ihre Anschlussmaschinen. Sie flog zurück nach London und Hawk wieder nach Washington.

      »Ich wollte Ihnen etwas geben, was mich schon seit längerer Zeit beschäftigt«, hatte er gesagt und eine Bemerkung über mögliche Zusammenhänge zwischen dem Mossad und den Attentaten in der Londoner U-Bahn gemacht.

      »Aber das waren doch arabische Terroristen«, antwortete Lena verwundert darauf, wobei Hawk da offenbar gegenteiliger Meinung war.

      Sie kannte ihn, seit sie mit ihren Recherchen gegen die Lobbyisten der Rüstungsindustrie begonnen hatte. Schon damals brachten seine Unterlagen Lena auf die heiße Spur der korrupten Politiker. Und er war es auch gewesen, der später den entscheidenden Hinweis gegen Bronsteen entdeckte.

      Hawk arbeitete lange Jahre für das Weiße Haus als historischer Berater und sammelte dort in aller Stille auch so manch geheime Information. Als er dann vor fünf Jahren seinen Ruhestand antrat, begann er Vorträge an Universitäten zu halten und sein Wissen für die politische Bildung von jungen Studenten einzusetzen.

      Wenn er ihr etwas zuspielte, gab es dafür auf jeden Fall triftige Gründe. Allerdings war sie in den letzten Monaten so beschäftigt gewesen, dass sie keine Ruhe gefunden hatte, die Mappe durchzusehen. Aber nun, da sie nach einem neuen Thema suchte, war es an der Zeit zu erfahren, welchen Dingen Hawk diesmal auf der Spur war.

      LONDON stand in großen Lettern auf dem Umschlag, drinnen gab es eine Reihe von Fotos aus dem Jahr 2005 von den Anschlägen in der U-Bahn, Bilder von den Überwachungskameras auf den Stationen und dann fand Lena Pressemeldungen aus verschiedenen Zeitungen.

      Am Rand der Ausschnitte standen zum Teil Hawks Gedanken darüber, auf manchen Fotos klebten Textstellen und einiges war mit Rotstift angestrichen. Auf den ersten Blick nur eine Auflistung der Ereignisse, dachte Lena, als sie die Papiere durchging. Sie erinnerte sich deutlich an den Tag, sie war wegen einer Recherche außerhalb Londons unterwegs und hörte die Nachricht im Radio.

      Sie blieb bei einer Meldung hängen, dass es keinen sicheren Beweis für die Herkunft der Attentäter gäbe, da alle Kontrollkameras bei den Zugängen zur Underground und an der Bushaltestelle an dem Tag ausgefallen waren. Eine Identifizierung sei daher nicht möglich. Hawk hatte eine Stelle markiert, in der behauptet wurde, einer der beschuldigten Männer wurde angeblich noch nach den Anschlägen woanders fotografiert.

      Wenn einer der Täter es nicht gewesen war, ist das auch bei den anderen fraglich, überlegte Lena. Auch der Ausfall aller Kameras war seltsam. In der U-Bahn kann das schon mal geschehen, aber dass gleichzeitig auch die Überwachung der Busstation auf der Straße nicht funktioniert hatte, war ihr zu viel des Zufalls. Und im Haus roch es eigenartig …

      »Der Kaffee!«, entfuhr es ihr. Sie sprang hoch und lief in die Küche, wo der Espresso überkochte. Mit einem Geschirrtuch zog sie die brodelnde Kanne von der Platte, goss den Inhalt weg und säuberte den Herd.

      »Interessant«, murmelte sie eine halbe Stunde später, nachdem sie Hawks Notizen gelesen und auch die Kopien der Artikel durchgesehen hatte. Nicht alle waren von den Londoner Anschlägen. Lena wunderte sich zuerst, warum Hawk auch Aufnahmen und Zeitungsausschnitte von einem Bombenattentat im Jahr davor mit in die Mappe gelegt hatte. Die Täter kamen aus ganz verschiedenen Lagern, konnten demnach nichts miteinander zu tun haben. Beim näheren Betrachten der Ereignisse fielen ihr dann aber einige Übereinstimmungen ins Auge.

      In der Moskauer Metro starben vierzig Menschen, als sich ein junger Tschetschene in einem Tunnel um halb neun Uhr morgens in die Luft sprengte. Wie in London war es ein vorderer Waggon, der durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt wurde. Die Wagentüren in der restlichen Garnitur versagten, die Menschen konnten nicht aus dem Zug und Panik brach aus. Man brauchte Stunden, um die Fahrgäste zu der nächstgelegenen Station zu evakuieren.

      Sonst gab es keine Gemeinsamkeiten. Der Anschlag war eindeutig ein Rachefeldzug, da Putin zuvor bei erzwungenen Wahlen in Tschetschenien seinen Kandidaten durchgesetzt hatte. Es gab Beschuldigungen, Bekenner und mehrere Verhaftungen, die eigentlichen Drahtzieher des Blutbades wurden dagegen nie ausgeforscht. Dennoch lieferten die Toten von Moskau den Russen einen neuerlichen Grund für die Unterdrückung der Tschetschenen.

      Lena blätterte weiter. Ganz hinten in Hawks Mappe lag eine Klarsichthülle, auf der ein Zettel geklebt war. Auf dem stand:

       Ich hatte gehofft, meine Überlegungen nach

       dem Anschlag in London wären falsch.

       Leider waren sie das nicht …

      Was meinte Hawk damit? Lena zog die Papiere heraus. Sie betrafen den erst unlängst verübten Anschlag in Brüssel. Der war Lena in lebhafter Erinnerung, hatte doch Niels im März für die London Tribune darüber geschrieben und ihr die furchtbaren Fotos des Gemetzels gezeigt.

      In einer Metro der Brüsseler Innenstadt, nahe der Europäischen Regierung, detonierte eine Bombe, die zwanzig Menschen im morgendlichen Berufsverkehr mit in den Tod riss. Bei der Fahndung wurde eine Flagge des Islamischen Staates gefunden, der sich dann später zu den Anschlägen bekannte.

      Bereits wenige Stunden danach betonte die westliche Welt die Solidarität mit Brüssel und die entschiedene Verteidigung der europäischen Werte. Im verstärkten Kampf gegen den IS würde man nun enger in der Allianz gegen das Terrorregime zusammenarbeiten – eine strategisch wichtige Entscheidung.

      So einen Schulterschluss gegen die arabische Welt hatte es auch nach den Angriffen auf die Londoner U-Bahn gegeben, dachte Lena. Die Briten, die davor überlegten, sich vom Krieg gegen den Irak zurückzuziehen, kämpften dann mit aller Härte weiter und die Finanzhilfe für die Palästinenser wurde zum Großteil eingefroren. Aber das war elf Jahre her und seitdem hatte es jede Menge anderer Gräueltaten in vielen Ländern der Welt gegeben. Und schließlich war es doch immer so, dass Attentäter den Sprengstoff am Körper trugen und für die Tat eine Uhrzeit wählten, wo möglichst viele Leute unterwegs waren.

      Sie breitete die Sachen vor sich auf dem Schreibtisch aus. Warum gerade diese drei Anschläge, welche Verbindung gab es und welchen Grund hatte Hawk gehabt, die Mappe nach Brüssel wieder hervorzuholen und ihr zu geben?

      Gedankenverloren schob Lena die Pressefotos zur Seite, da bemerkte sie auf der Rückseite von einigen ein großes, dick in Rot gemaltes Rufzeichen. Es waren die Aufnahmen von den zerstörten U-Bahn-Wagen der jeweiligen