Sie nahm die Karte, beugte sich vor, hob die Puppe des Mädchens auf, die im Fußraum des Beifahrersitzes lag, und hielt sie ihm durch die offene Autotür hin.
»Die is’ während der Fahrt weggelauf’n!« Dazu lachte sie breit.
»Ah, habe ich gar nicht bemerkt«, sagte Tom und steckte die Puppe ein, »danke, Ruby!«
»Schon okay!« Sie hob beide Daumen hoch. »War ‘ne schicke Fahrt. Hoff’, die Kleine kommt zu ‘nem Super-Doc, der sie durchbringt.«
Tom winkte zurück und lief ins Krankenhaus. Wie versprochen wartete oben Madeleine mit dem Arzt. Doktor Kerry, ein großer, knochiger Mittfünfziger mit eisgrauer Stoppelglatze, empfing Tom freundlich. Er nahm ihm das Mädchen ab, schaute sich die Schwellung und die Armbrüche an.
»Wir machen jetzt erst mal ein paar Bilder, ich hole einen Thorax-Spezialisten dazu und dann sehen wir weiter. Danke für Ihr schnelles Eingreifen, aber mehr können Sie nicht tun.«
Damit schob er ihn wieder hinaus auf den Gang.
Tom ging nun schon seit einer geschlagenen Stunde auf dem Flur von Level drei vor dem Central Imaging Department, so hieß hier die Radiologie, auf und ab. Noch immer waren die Ärzte bei dem Mädchen. Es machte ihn unsicher, dass die Untersuchung so lange dauerte, er hielt dies für ein eher schlechtes Zeichen.
Sein Termin mit dem Historiker im Archiv der Universitätsbibliothek fiel ihm wieder ein, der einige interne Daten aus Statistiken für ihn kopiert hatte. Tom war unterwegs zur Uni gewesen, als das Unglück geschah. Er brauchte diese vertraulichen Unterlagen für sein neues Buch über Börsengeschäfte und Terrorismus, an dem er gerade arbeitete. Er dachte daran, den Wissenschaftler mit einem Anruf zu verständigen und ihm die Situation zu erklären. Dann jedoch steckte er sein Handy wieder weg. Er fühlte sich überhaupt nicht imstande, mit jemandem zu sprechen oder seine Erlebnisse schildern zu müssen.
Früher, als er für die Reportagen der wichtigen Fernsehstationen große Storys rund um den Globus recherchierte, bekam er alle Hinweise, die er brauchte, ohne danach zu fragen. Die Leute drängten sie ihm förmlich auf, so gierig waren sie, im Fernsehen Beachtung zu finden oder ihre Erkenntnisse über andere loszuwerden. Nach einem größeren Flop und der darauf folgenden Schadenfreude seiner eifersüchtigen Kollegen zog sich Tom vom schnellen Tagesgeschäft in ein Haus bei den Londoner Docks zurück. Dort verbrachte er sein Leben seitdem als Autor von politischen Sachbüchern und nur wenige seiner alten Kontakte waren ihm geblieben. Er würde also später eine Mail schreiben, dass er mitten in dem Vorfall am King’s Cross stecken geblieben war und sich damit für sein Nichtkommen entschuldigen.
Um elf ging er den langen Gang nach hinten, bis ans Ende zu den Liften, wo er beim Hereinkommen einen Aufenthaltsraum mit Fernseher gesehen hatte. In den Nachrichten sollten die Sender einiges an Informationen bringen. In den durchlaufenden Infozeilen konnte man lesen, dass es mehrere Explosionen gegeben haben musste, wodurch die ganze Stadt gelähmt war.
Vor dem allgemeinen Aufenthaltsraum befand sich ein größerer freier Platz. Den Fernsehbereich mit dem TV-Gerät trennte eine Glasschiebewand ab, damit Leute, die sich unterhalten wollten, vom lauten Ton nicht gestört wurden. Die Schiebetür stand offen, eine Menge Patienten, die wie gebannt die Sendungen verfolgten, drängten sich bereits im offenen Zugang.
Tatsächlich wurde auf jedem News-Channel darüber berichtet. Die offizielle Pressemitteilung der Polizeibehörde bestätigte danach, dass kein Stromausfall Schuld an dem Chaos trug, sondern London das Ziel eines mehrfachen Anschlags geworden war.
Laut offiziellen Angaben hatten vier arabische Terroristen die Anschläge verübt: Selbstmordattentäter, die Rucksäcke mit Sprengstoff trugen, den sie zündeten und sich damit in die Luft sprengten. Drei der Araber, so die weiteren Details, taten dies gegen neun in verschiedenen U-Bahn-Linien und etwa eine Stunde später ein weiterer in einem städtischen Autobus.
Am stärksten betroffen war die überfüllte Piccadilly-Line bei der Station am King’s Cross, so die Berichte weiter, alleine in dieser Zuggarnitur gab es wahrscheinlich über zwanzig Tote. Die Überlebenden konnten erst nach einer Stunde von den Einsatzkräften befreit werden.
»Wahnsinn«, murmelte Tom, der sich an die verzweifelten Gesichter der eingeschlossenen Menschen erinnerte, die gegen die Fensterscheiben gehämmert hatten. »Eine Stunde in der Ungewissheit, was weiter passiert, ob es nicht eine neuerliche Explosion gibt …«
Auf BBC und CNN sprach man von über dreißig Toten und hunderten Verletzten, Sky meldete sogar tausend Verwundete.
Wie sich später herausstellte, war das unerwartete Problem für die Sicherheit, dass die Attentäter davor schon in Großbritannien gelebt hatten, drei von ihnen waren sogar gebürtige Briten. Dadurch boten die genauen Kontrollen auf den Flughäfen, die man seit dem Anschlag in New York vom elften September auch in England durchführte, in diesem Fall leider keinen Schutz.
In den folgenden Reportagen des Tages brachten sie Fotos von den zerstörten U-Bahnen und dem zerfetzten Bus. Ein verwackeltes Privatvideo zeigte Einsatzkräfte, die versuchten, Ordnung in die aufgeregte Menge zu bringen. Die Stadtverwaltung hatte den gesamten U-Bahn-Verkehr und die Buslinien in der Innenstadt eingestellt – die Stadt hielt den Atem an.
Tom konnte der Sendung nicht weiter zuhören, sie brachte die Erinnerung an das Erlebte sofort zurück. Er wischte sich über die Stirn, um die aufkommenden Bilder in seinem Kopf loszuwerden, und ging langsam zurück zur Radiologie.
Madeleine kam ihm entgegen, sie suchte ihn schon und hielt die Puppe des Mädchens in der Hand. Tom bemühte sich, in ihrem Gesicht zu lesen, wie es dem Mädchen ging. Sie sah den Blick und winkte beschwichtigend.
»Sie lebt, allerdings hat sie, außer den Armbrüchen, einen einseitigen Riss in der Lunge und eine Ansammlung von Blut oberhalb der Brust. Sie ist in der Vorbereitung, unser Oberarzt wird sie operieren, den Blutschwamm absaugen und eine fixe Drainage in die Lunge legen.«
»Wird sie durchkommen?«
»Das kann man nicht sagen. Wenn sie eine Kämpferin ist und keine schweren inneren Verletzungen hat …«
»Danke, Maddy, zumindest besteht Hoffnung!«
»Hast du in den Nachrichten gehört, was los war?«
»Ja, Anschläge von Terroristen, vier Bomben in der U-Bahn und im Bus, den ganzen Betrieb in der City haben sie deshalb eingestellt.«
»Irre, als wir zuerst telefonierten, sagten sie im Radio nur etwas von einer Explosion wegen eines Stromausfalls«, meinte Madeleine bestürzt.
»Das haben sie nur gemacht, damit es keine Panik gibt, solange man nicht wusste, was geschehen war.«
Tom ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen, die an den Wänden entlang des Flurs standen. Madeleine blickte auf ihn hinunter.
»Du siehst auch ziemlich fertig aus«, sagte sie, »ich bring dir was zum Anziehen, einen starken Kaffee, dann musst du duschen und ich versorge den Fuß.«
»Was?«
Tom verstand zuerst nicht, was sie meinte, dann sah er in die Glasscheibe der Etagentür gegenüber, in der er sich spiegelte. Sein Gesicht war zerkratzt, an verschiedenen Stellen von dem Rauch im Tunnel schwarz verschmiert und seine Haare standen ziemlich wirr vom Kopf. Auch die Jacke und seine Jeans waren dreckig, an den hellen Sneakers klebte ölige Schmiere und über dem rechten Fuß war die Hose zerrissen. Rund um die Stelle, wo sich das Metallstück hineingebohrt hatte, war der Stoff mit getrocknetem Blut getränkt. In dem Moment, wo er die Wunde sah, begann sie, wie höllisch zu arbeiten.
»Ja, danke Maddy, das wäre toll«, stöhnte er mit einem flehenden Blick, der Madeleine sogar in der ernsten Situation zum Schmunzeln brachte.
»Ich hole jetzt Kaffee, Verbandszeug und eine saubere Hose von einem unserer Pfleger.« Sie beugte sich vor und setzte die Puppe auf den Stuhl neben Tom. »Da,