Lena Halberg: London '05. Ernest Nyborg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernest Nyborg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783868411317
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des Mädchens ins Labor bringen und mich mit meiner Kollegin absprechen. Wird etwas dauern.«

      »Keine Angst«, antwortete Tom müde, »ich lauf dir nicht davon.«

      »Terroristen mitten in London …« Madeleine schüttelte im Weggehen fassungslos den Kopf. Dann drehte sie sich nochmals um. »Übrigens ein Glück für die Kleine, dass du sie getragen und bewegt hast. Hätte man sie auf eine Trage gelegt, wäre sie erstickt.«

      Trotz des schwülen Tages ließ sich Tom das Wasser brühheiß über den Rücken laufen. Es war inzwischen Mittag vorbei, sein Schienbein zierte ein frischer Verband und er stand unter der Dusche. Die Wärme tat ihm gut, löste seine Verkrampfungen.

      Der Mann am Bahnsteig fiel ihm ein. Letztlich hatte er recht, würden die Menschen mehr Respekt vor anderen haben, wäre es besser für die Welt. Es gäbe weniger Konflikte, weniger Verwicklungen und – mit einem besseren Verständnis für die arabische Welt – hätte sich London vermutlich auch die heutigen Terroranschläge erspart. Konnte man die Attentäter überhaupt als Araber bezeichnen? Angeblich waren es Briten gewesen. Aber so ticken wir in England, dachte Tom, alle hier geborenen Europäer, Inder, Asiaten oder Schwarzafrikaner sind einfach Briten, aber die aus den arabischen Familien sind seit 9/​11 wieder nur Araber.

      Irgendwann nach einer endlosen Weile klopfte es an der Duschtür, Madeleine stand davor. Tom öffnete die Augen und sah sie durch den Wasserstrahl an.

      »Sie ist auf der Intensiv«, sagte sie laut, damit er sie hören konnte, »sie kommt durch!«

      Als Maddy wieder draußen war, versagten Tom fast die Beine, so glücklich war er. Er hockte sich müde auf die warmen Bodenfliesen der Duschkabine und warf den Kopf zurück. Der starke Strahl traf sein Gesicht, nahm ihm den Atem. Er wollte sich die letzten Stunden abwaschen – die Zerstörung, die Toten und das ganze Leid, das er hatte mit ansehen müssen.

      Zur gleichen Zeit verließ Tony Blair das Gleneagles Hotel in den schottischen Ochil Hills nahe Edinburgh und die dort seit dem Vortag stattfindende G8-Gipfelkonferenz, um sich ein Bild von den Vorfällen in London zu machen.

      Er verhandelte mit George W. Bush, Wladimir Putin und den Regierungschefs der wichtigsten Industrienationen über ein Hilfspaket von drei Milliarden Dollar für die palästinensischen Autonomiegebiete. Sein Ziel war es, mit den Zahlungen den Friedensprozess im Nahen Osten zu fördern.

      Nach seiner Rückkehr verfolgte er das Thema nicht weiter, die Hilfe für die arabischen Regionen wurde zur großen Zufriedenheit Israels eingefroren. Das Hauptthema der Konferenz war nun die Bekämpfung des Terrors und die davor laut gewordenen Überlegungen der britischen Regierung, sich von den Konfliktherden in Afghanistan und dem Irak zurückzuziehen, wurden verworfen. Man entschied, an der Seite der USA mit aller Härte weiter am Krieg teilzunehmen.

Heute

      Die gleichmäßig graue Wolkendecke ließ zum ersten Mal in diesem Winter feine Flocken auf die Londoner Innenstadt fallen. Unten auf der Straße verwandelten sie sich in hellbraunen Matsch, der den Fahrern, die an diesem Freitagnachmittag Anfang Dezember unterwegs waren, schlitternde Bremsmanöver bescherte. Schon wenige Zentimeter Schnee konnten die Metropole an der Themse vollkommen lahmlegen – es gab ihn selten, man war nie darauf vorbereitet und kaum ein Fahrzeug in England fuhr mit Winterreifen.

      Lena stand beim Fenster im letzten Stockwerk des Aldersgate Towers, dem dunkelblauen Glaskomplex mitten in der City, der beim Postman’s Park neben dem historischen Museum von London aufragt. Sie schaute fasziniert über die Dächer der Londoner Börse und der Temple Bar auf die sich langsam weiß färbende Kuppel der St. Pauls Cathedral, die zum Greifen nahe schien. Wie der frisch gestärkte Reifrock einer eleganten Frau aus dem vorigen Jahrhundert, so kam ihr das gewölbte Dach des Doms vor.

      Dahinter wand sich die Themse in einer weiten Linksbiegung durch die Millionenstadt. Auf den Brücken, die von hier aus zu sehen waren, pulsierte dichter Verkehr. Alles war geschäftig auf den Beinen nach Hause oder am Einkaufen für das bevorstehende Wochenende und staute in überfüllten Fahrbahnen nach allen Richtungen quer durch die Stadt. Lena genoss den Anblick des bunten Treibens, es fühlte sich lebendig an und für eine Journalistin konnte hinter jedem der Menschen eine Story stecken, die es wert war, erzählt zu werden.

      In dem eleganten Office-Building, hoch über den Dächern der Stadt, residierte das Redaktionsbüro Barod International, für das Lena seit letztem Sommer arbeitete. Sie kannte Shyam Barod, den Besitzer der Firma, schon lange aus der Branche. Ihr gefiel seine Entschlossenheit, heikle Themen aufzugreifen. Shyam hatte eine gute Hand für Storys, was der Grund für seinen Erfolg und die rasche Karriere war. Mehrmals hatte er bereits versucht, Lena von ihrem alten Job abzuwerben, bis sie ihm schließlich die Reportage anbot, die sonst niemand machen wollte: Business and Terror – Wer profitierte vom Anschlag am elften September?

      Er bewies auch diesmal Mut, griff sofort zu und gab Lena ein eigenes Sendeformat für politische Dokumentationen. In ihrer Reportagereihe Behind Headlines sollten regelmäßig anspruchsvolle Hintergrundberichte zu politischen Ereignissen erscheinen, die er plante, in allen wichtigen News-Kanälen Englands unterzubringen.

      Lena ging zurück in den Besprechungsraum, wo schon einige vom Team, die andere Programmschienen betreuten, warteten. Alle sahen gespannt auf Shyams jungen Assistenten Clark, der die Statistiken betreute und die Listen mit den laufenden Quoten ausgebreitet vor sich liegen hatte.

      »Ja, euer Chef-Analyst sagt euch«, eröffnete er lachend die Runde, »wir haben wieder einmal den Vogel abgeschossen.«

      Der quirlige Clark war erst Anfang dreißig, stets bester Laune und mit seinen bunt gemusterten Sakkos der schräge Vogel in der arrivierten Mannschaft. Er nahm die Kopien von den Berichten und schob sie über den Tisch, während sich Lena bei der Kaffeemaschine neben dem Eingang einen Cappuccino zubereitete.

      »Vier unserer aktuellen Reportagen sind in ganz England gelaufen, zwei haben sich auch nach Deutschland, die Schweiz und Frankreich verkauft und dein Bericht über die neuen Entwicklungen in der IRA«, er nickte einem älteren Mitarbeiter mit dunklem Haarzopf und runder Nickelbrille zu, »hat es bis nach Übersee geschafft – gratuliere, tolle Arbeit. Aber diesmal habt ihr es schwer, Lenas neues Reportformat hat alle Erwartungen übertroffen.«

      Clark stand auf und winkte Lena mit einer einladenden Geste zu sich. Sie warf Zucker in ihre Tasse und ging umrührend hinüber zum Tisch.

      »Sensationell«, fuhr er fort und hielt ihr den Ausdruck hin, »deine Story über 9/​11 hat sich bisher in zwölf Länder verkauft, darunter USA, Japan, Australien und Island – dort hatten wir noch nie etwas auf Sendung – und wurde insgesamt dreißig Mal ausgestrahlt. In Amerika warst du damit im Hauptabendprogramm und hast eine Welle von erbosten Reaktionen der konservativen Republikaner ausgelöst, die auf den sozialen Netzwerken deine Spekulationen zur Beteiligung der Waffenlobby an den Vorgängen empörend fanden. Es ist daher anzunehmen, dass du ins Schwarze getroffen hast. Mehr als dieses Echo kann man sich für eine Reportage nicht wünschen …«

      Alle Kollegen pochten mit den Knöcheln anerkennend auf die Tischplatte und Lena rührte verlegen im Cappuccino.

      »Und von Shyam, der nicht hier sein kann, weil er in der Schweiz zu tun hat«, warf Ruth ein, die auch beim Tisch saß, »soll ich dir ebenfalls ausrichten, dass er froh über den Erfolg deiner ersten Arbeit für uns ist.«

      »Danke euch, das freut mich sehr. Es war oft an der Kippe, ob ich das Thema gegen den politischen Widerstand durchbringe«, sagte Lena und ihre Augen wurden feucht, »auch habe ich einen lieben Freund in dieser Zeit verloren.«

      »Ich weiß: Niels«, sagte Ruth tröstend. »Er war ein bemerkenswerter Kollege, den auch wir sehr geschätzt haben. Schon deshalb ist es wichtig, dass deine Sendung jetzt eine derartige Anerkennung findet.«

      Lena setzte sich an den Tisch und verfolgte die weiteren Gespräche mit dem wehmütigen Gefühl, dass Niels nicht mehr da war, aber auch mit Zufriedenheit ob des neuen Jobs. Sie arbeitete gerne in dieser ruhigen, sachlichen Crew und sie mochte