Da fiel ihm Maddy ein. Madeleine Summer, eine gute Bekannte Toms, war medizinische Biologin und arbeitete im Labor im Whittington Health, das sogar eine eigene Kinderambulanz hatte. Bis hinaus nach Highgate waren es zwar zwanzig Minuten, aber besser, als hier die Zeit mit der Suche nach einem Arzt zu verbringen, der dann ohne die nötigen Geräte auch nichts tun konnte.
Ein Fahrzeug, schoss es Tom durch den Kopf, ich brauche ein Fahrzeug. Er lief auf die andere Seite der Station, wo die Sicherheitskräfte begannen großräumig abzusperren, zwängte sich durch zwei Sperrbalken hindurch und stürmte hinaus auf die Pancras Road, wo die Taxis parkten.
Noch im Laufen fingerte er in seiner Hosentasche nach dem Handy, zog es heraus und lehnte sich gegen eine Mauer, um eine Hand zum Wählen frei zu haben.
Zum Glück war Madeleine nicht nur im Dienst, sondern auch gleich am Telefon. Tom erklärte ihr in knappen Worten die Situation mit der Explosion und dem verletzten Kind. Sie hatte eben erst die Meldung über die Vorfälle im Radio gehört und war ziemlich schockiert.
»Und du steckst da mittendrin?«, entfuhr es ihr entsetzt.
»Nein, nicht direkt, aber das ist jetzt egal«, unterbrach er sie, um weitere Fragen abzuwenden, »kannst du mir bitte helfen, das Kind muss behandelt werden.« Er berichtete von den Verletzungen, vor allem von der bläulichen Wölbung auf der Brust.
»Wo bist du jetzt?«, fragte sie.
»Noch am King’s Cross, nehme aber ein Taxi und bin in zwanzig Minuten bei dir draußen.«
»Gut, aber komm nicht zu mir ins Labor, da kann ich nichts für euch tun, und auch nicht in die Notaufnahme, dort ist es ziemlich voll am Vormittag.« Maddy hatte den Schock überwunden und war wieder ganz professionell in ihren Anweisungen. »Bring sie direkt auf Level drei in die Radiologie zum MR – die Abteilung ist unten bei der Einfahrt angeschrieben. Ich verständige Doktor Kerry, damit er euch einschiebt. Kerry ist unser Chef-Radiologe, da ist die Kleine in besten Händen. Ich hab ihn heute früh schon gesehen, er ist also da.«
»Danke Maddy, du hast was gut bei mir!« Tom stieß sich von der Mauer ab und hetzte weiter.
»Ja, ja. Ich warte im MR auf euch. Und beeil dich, das mit der Schwellung hört sich nicht gut an!«
Dort, wo normalerweise die Taxis in Zweierreihen standen, gab es jetzt nicht ein einziges. Tom winkte einigen, die vorbeifuhren, aber sie waren besetzt und beachteten ihn gar nicht. Er lief den Bürgersteig nach vorn, sprang einfach auf die Straße und stoppte das nächste Fahrzeug, das kam – ein großer schwarzer Geländewagen. Der Fahrer blinkte zunächst mit der Lichthupe, nachdem Tom aber nicht zur Seite wich, blieb er stehen und ließ sein Fenster hinunter. Tom rannte zur Fahrerseite.
»Ich muss ins Spital, dringend!«
»Aber nicht mit mir«, sagte der dicke Fahrer mit Goldrandbrille, sichtlich verärgert über den Aufenthalt. »Gehen Sie doch ins Pancras, das schaffen Sie zu Fuß.« Er murmelte etwas von einem wichtigen Termin und dass er sich seine teuren Ledersitze nicht versauen lasse. Er gab unvermittelt Gas, der schwere Wagen schoss davon.
»Arschloch!«, schrie Tom hinter ihm her, außer sich vor Zorn.
Was jetzt? Er drehte sich verzweifelt um. Auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof, dessen Zufahrt offen war, stand ein kleiner weißer Toyota mit offener Heckklappe. Eine junge Farbige, etwa um die zwanzig, lud ihre Einkäufe ein und sah interessiert auf die Polizeifahrzeuge, die draußen mit laufender Sirene zur vorderen Station einbogen. Sie war offensichtlich so mit Shopping beschäftigt gewesen, dass sie von der Hektik am King’s Cross nichts mitbekommen hatte. Tom lief über die Straße, hinein auf den Parkplatz und winkte der Frau. Sie schaute ihn verwundert an.
»Was is’n da los?«, fragte sie neugierig in breitem Cockney-Slang, als Tom atemlos bei ihr ankam.
»Ein Unfall in der U-Bahn«, antwortete er schnell, ohne auf nähere Details einzugehen, »das Kind ist verletzt, können Sie mich bitte ins Whittington fahren?«
Sie war zunächst ziemlich irritiert, sah aber dann die Wunde am Kopf des Mädchens und wurde unsicher, wie sie sich verhalten sollte.
»Na ja«, versuchte sie die Sache abzubiegen, »is’n da keine Rettung bei der Station?«
»Schon«, drängte Tom, »aber die sind überfordert. Das Kind ist bewusstlos und braucht dringend ein Röntgen!«
»Aber is’n nicht das Ormond um die Ecke …?«
»Das ist sicher schon überlastet, es gab viele Verletzte.« Tom ließ nicht locker. Er hatte den Türgriff auf der Beifahrerseite schon in der Hand. »Bitte! Die Kleine stirbt sonst womöglich!«
Die junge Farbige warf die Heckklappe zu, zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern und kam nach vorne.
»Na okay«, sagte sie und ließ sich auf den Fahrersitz fallen, »wo woll’n wir hin?«
»Nach Highgate Hill beim Waterlow Park.«
»Wo is’n das genau …?«
»Einfach die Royal College nach Norden und dann die Fortress bis …« Sie schaute verständnislos und hatte sichtlich keine Ahnung von der Strecke. Tom winkte ab. »Ich sage es Ihnen einfach an.«
»Okay!« Sie parkte schwungvoll aus, rollte vom Parkplatz und sah Tom von der Seite an.
»Ich bin Ruby.«
»Tom.«
Sie deutete lächelnd auf das Kind. »Is’ Ihres?«
»Nein.«
»Von ‘ner Bekannten?«
»Auch nicht, das Kind wurde bei dem Unfall verletzt.«
»Und sonst’n war keiner mit?«
»Doch, die Mutter.« Tom nervte die Fragerei.
»Und wo is’n die jetzt?«
»Sie ist leider ums Leben gekommen.«
»Fuck, das is’n Wahn!« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Das muss man sich geb’n. Ich will später keine Kinder …«
Tom sah nach der Kleinen, sie war noch bewusstlos. Einmal zuckte er zusammen, da er dachte, das Mädchen atme nicht mehr, aber als er sie leicht anhob, holte sie nach einer Schrecksekunde wieder tief Luft.
»Könnten Sie schneller fahren?«
»Aber …«
»Ich zahle alle Strafen, nur bitte machen Sie!«
»Okay!«
Sie trat das Gaspedal durch, der kleine Wagen machte einen Satz und schoss förmlich nach vorn. Tom nahm jetzt doch den Gurt und schnallte sich an.
»Neu’zig PS«, sie grinste stolz, »is’n ganz Schneller!«
Nach einigen Straßen hatte sich Tom an die rasante Fahrweise gewöhnt und begann sogar, Rubys Übersicht zu bewundern. Er selbst fuhr mit den alten Mühlen, wie er seine beiden Oldtimer oft liebevoll bezeichnete, eher gemütlich. Das konnte man von seiner Fahrerin nicht behaupten.
»Wie gehts’n weiter?«, fragte sie ständig und warf den winzigen Toyota zwischen den Spuren hin und her.
Tom kam mit dem Ansagen des Weges fast nicht nach. Ruby kurvte, hupte, bremste, zeigte anderen Verkehrsteilnehmern diverse Finger und schaffte die Strecke, trotz des dichten Morgenverkehrs, in knappen siebzehn Minuten.
»Passt