Das Publikum war zumeist zwischen achtzehn und dreißig Jahren alt und kam überwiegend aus der Gothicszene: Nach Henriks Meinung harmlose Irre, die in gruseligen, schwarzen Klamotten umherrannten und mit den schwarz gefärbten Haaren und blassen Gesichtern wie der leibhaftige Tod aussahen.
Das Molocco war als Umschlagsplatz diverser weicher und harter Drogen bekannt. Einmal gerieten die beiden dort in eine Polizeirazzia. Tobi konnte in letzter Sekunde über ein Klofenster entkommen. Henrik dagegen wurde mit einem Joint erwischt, den Tobi ihm gedreht hatte, und musste mit aufs Revier. Die halbe Nacht hatte er dort zugebracht. Danach war Henrik stinksauer auf den Freund und beschimpfte ihn auf übelste Weise. Tobi hatte getan, was er immer tat: Er lachte sich kringelig und fand die Geschichte urkomisch.
Die Freunde wühlten sich durch die Menge und arbeiteten sich in Richtung Bartresen vor. Tobi grüßte seinen Bruder Frank mit einem kurzen »Hallo!« und bestellte dann zwei Kola.
Frank mixte einem der Gäste gerade einen »Zombie«, einen hochprozentigen, rumhaltigen Cocktail von giftig-grüner Farbe. Er bedachte die beiden mit einem spöttischen Grinsen, während er das fertige Getränk dem Kerl hinschob, der es bestellt hatte. »Na, ihr beiden Schnorrer! Ihr seid wohl ein bisschen nass geworden, was?«, stichelte er.
Tatsächlich sahen Henrik und Tobi aus wie zwei durchweichte Vogelscheuchen. Henrik blinzelte mit halbgeöffnetem Mund nervös durch seine von innen beschlagenen und von außen mit Regentropfen bedeckten Brillengläser, was ihn nicht gerade intelligent aussehen ließ, während Tobi fröhlich grinste und Grimassen schnitt. Dazu rann ihm das Wasser vom Kopf und tropfte über das Nasenpiercing auf den Boden. »Spricht man so mit seinem Lieblingsbruder und seinen treuesten Stammgästen in dieser traurigen Freakshow?«, witzelte er.
»Wer solche Stammgäste hat, braucht Bullen, Ordnungsamt und Pestilenz nicht mehr zu fürchten.« Frank zog seine buschigen Augenbrauen verärgert zusammen. Das schulterlange, schwarze Haar fiel ihm über das blasse, hohlwangige Gesicht, das nun recht bedrohlich wirkte. Doch dann grinste er versöhnlich und wies mit seinem knochigen Zeigefinger, an dem ein gigantischer Silberring in Form einer zusammengerollten Schlange steckte, in die hinterste Ecke des Etablissements. »Setzt euch da hinten hin und macht keinen Ärger. Und wenn mein Boss kommt, verpisst euch unauffällig aufs Klo! Habt ihr verstanden, ihr Spaßvögel?«
Henrik starrte weiter missmutig und schweigend mit offenem Mund Tobis Bruder an, während der Freund zwei Gläser mit Kola nahm und ihn mit einer Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen.
»Alles klar, Keule!«, entgegnete Tobi, »Immer cool bleiben. Sonst gibt’s kein Trinkgeld.« Frank zeigte ihm den gestreckten Mittelfinger und raunzte: »Piss off!« Dann schenkte er den beiden keine Beachtung mehr und mixte den nächsten Cocktail.
Frank war achtundzwanzig Jahre alt und Tobis Halbbruder. Er stammte aus der ersten Ehe ihres gemeinsamen Vaters. Tobi liebte seinen älteren Bruder und sagte niemals Nein, wenn Frank ihn um einen Gefallen bat, auch wenn ihn das manchmal in Schwierigkeiten brachte. Oft handelte es sich zum Beispiel um Botengänge, bei denen es um heiße Ware ging. Oder er musste irgendwo Schmiere stehn, während der Bruder unsaubere Geschäfte abwickelte.
Frank war wegen diverser Delikte wie Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung vorbestraft. Zuletzt musste er neun Monate Knast wegen Drogenhandels absitzen. Derzeit war er auf Bewährung frei. Henrik bezweifelte jedoch, dass dies lange so bleiben würde.
Henrik und Tobi setzten sich auf eine schmale, schwarz lackierte Holzbank hinter einer Balustrade, auf der mindestens zwanzig aufgereihte Schrumpfköpfe standen. Tobi behauptete, dass die alle echt seien. Henrik glaubte ihm das zwar nicht so richtig, dennoch überlief ihn jedes Mal eine leichte Gänsehaut, wenn er in die winzigen, gequälten Schrumpfgesichter blickte.
Von ihrem Platz aus konnten sie die Tanzfläche nicht überblicken. Das war wohl auch der Grund, warum hier niemand saß. Der Vorteil bestand darin, dass sie sich ungestört unterhalten konnten.
Seufzend zog Henrik seine patschnasse Jacke aus und legte sie neben sich auf die Bank. Mit dem T-Shirt putzte er sich die Brille sauber. Tobi saß neben ihm und ruckte grinsend mit seinem Kinn im Takt zur Musik von Sisters of Mercy, während er mit den Zeigefingern auf den Tisch trommelte.
»Cooler Ring, den dein Brüderchen da trägt«, meinte Henrik, als er endlich zufrieden an seinem Strohhalm nuckelte.
»Ja, Mann«, nickte Tobi eifrig. »Ich wollte auch so einen, doch diese Bazille will mir nicht verraten, wo er ihn herhat. Er tut mächtig geheimnisvoll und erzählt mir so einen Scheiß wie: Nur würdige Diener der Schlangenmutter tragen diesen Ring. Völlig stoned ist dieser Typ.«
Henrik nickte nachdenklich. Aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an sein Erlebnis im Gasthof von Sleepysoul denken. »Tobi, hast du schon mal von einem KoF-Charakter mit dem Namen Tulsadoom gehört?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Hä?« Tobi starrte ihn fragend an.
»Ein Druide im sechzigsten Level«, erklärte Hendrik. »Linker Typ, wenn du mich fragst. Hat mich heute im Game schräg angequatscht.« Er trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.
Tobi runzelte angestrengt die Stirn, als müsse er nachdenken. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf und seine Zahnlücke zeigte sich in voller Pracht. »Na klar! Bin dem Kerl mal in der Arena bei einem Übungskampf begegnet. Ziemlich arrogante Schnalle. Hatte ein paar miese Tricks drauf. Er arbeitet vorwiegend mit Giftdolchen im Stealmodus.«
Henrik nickte. Stealmodus war die Fähigkeit der Druiden- und Schurkenklasse, sich fast unsichtbar an den Gegner heranzuschleichen, um ihn hinterrücks zu erledigen. Verdammt hinterhältig, dafür äußerst effektiv.
»Was wollte der falsche Fuffziger von dir?«, wollte Tobi wissen.
»Nun, du erinnerst dich doch an mein neues Armband aus der letzten Quest? Das mit der Inschrift!« Henrik blickte den Freund aufmerksam an.
Tobi schlug sich fröhlich mit der Hand vor die Stirn, als ihm die Geschichte wieder einfiel. »Ja, klaro. Das Ding, das diesem schwarzen Schattenmagier gehört.«
»Das ist jetzt mein Armband, du Schwachkopf!«, schrie Henrik und hieb Tobi die Faust auf den Oberschenkel.
Der verzog erschrocken und in unterdrücktem Schmerz das Gesicht. »Ja, ja Alter. Ist ja gut. Immer mit der Ruhe, Bruder. Und mach keinen Terror! Die Gäste werden schon auf uns aufmerksam«, zischte er.
In der Tat schauten drei Gruftis vom Nachbartisch neugierig zu ihnen herüber. Sie hatten schon seit geraumer Zeit die Mädels auf der Tanzfläche beobachtet, mit schmutzigem Grinsen getuschelt und anzügliche Witze gerissen. Henriks Ausraster war ihnen nicht entgangen und auch Frank schaute besorgt zu ihnen hin.
Tobi winkte ihm lächelnd zu und rief: »Hey, Garçon! Bitte ein Fläschchen Dom Perignon und ein Schälchen von dem guten Belugakaviar, aber vite, vite!«
Frank schüttelte ironisch lächelnd den Kopf und widmete sich weiter seiner Kundschaft.
Die drei Gestalten vom Nachbartisch starrten immer noch interessiert zu ihnen herüber. Sie waren zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren alt und im Vampirlook gestylt, das hieß, sie hatten lange, schwarze Haare, die Gesichter waren weiß gepudert und die Lippen rot geschminkt. Unter langen, schwarzen Ledermänteln trugen sie schwarze Jeans und T-Shirts oder Hemden.
Tobi warf ihnen einen aggressiven Blick zu und blaffte: »Na, was ist? Wollt ihr ein Passfoto, ihr Vögel?«
Die drei glotzten sich verdutzt an. Dann grinsten sie verächtlich und vertieften sich wieder in ihre Männergespräche.
Henrik redete weiter. »Also, der komische Schattenmagier nennt sich W8_4_N8. Dieser blöde MisterMister Oberclever steigt wohl immer erst nach Mitternacht ins Game ein. Angeblich will er das Armband wieder zurückhaben und ich soll das Ding einem Gildenboss – Lord Dragon – übergeben. Was hältst du von der Geschichte?«
Tobi