In Wahrheit kam die Mutter ganz gut ohne ihn aus.
Sarah Wanker war niemals das gewesen, was man gemeinhin eine treu sorgende Mutter nannte. Als sein Vater starb, war er drei oder vier Jahre alt gewesen. Danach brachte seine Mutter ihn ständig zu irgendwelchen Tagesmüttern, oft für mehrere Wochen. Sie begründete es ihm gegenüber damit, dass sie ja schließlich arbeiten müsse, um ihn ernähren zu können.
An den Vater konnte Henrik sich kaum noch erinnern. Lediglich eine Szene hatte sich in sein kindliches Gedächtnis eingebrannt: Mit zwei oder drei Jahren hatte er mit seinem Papa im Garten Ball gespielt. Er wusste genau, dass er an diesem Tag wirklich glücklich gewesen war – doch das war längst vorbei. Was sollte es?!
Zur vereinbarten Zeit loggte Henrik sich wieder ins Spiel ein. Sie trafen sich an vereinbarter Stelle am Eingang der Teufelsschlucht. Die anderen warteten schon auf ihn.
Da war zunächst Shiva-Warrior. Der Charakter aus der Schurkenklasse befand sich im zweiundsiebzigsten Level, ein kleiner, drahtiger, muskulöser Kerl mit schwarzen, kurz geschorenen Haaren, braunen Augen und Dreitagebart. Gekleidet war er in einen schwarzen Lederanzug. Seine Spezialität bestand im heimlichen Anschleichen an den Feind, um ihn hinterrücks zu meucheln. Er war bewaffnet mit zwei vergifteten Dolchen.
Neben ihm stand Deadlysorc, eine Zauberin aus dem sechsundsiebzigsten Level, deren Hauptangriffstaktik in der Erzeugung eines machtvollen Feuerregens bestand. Sie war eine gefährliche Schönheit mit roten, schulterlangen gelockten Haaren und grünen Augen. Ihr Unheil verkündender Blick konnte die Knie jedes Gegners weich werden lassen. Sie brauchte keine Waffen. Ihre Zaubersprüche und Beschwörungsformeln waren mächtiger und todbringender als jedes Schwert.
Der Dritte im Bunde nannte sich Livingdead, ein Untoter im achtzigsten Level, der Skelettkrieger beschwören konnte, die an seiner Seite kämpften. Er war mindestens ein Meter neunzig lang und spindeldürr. Sein schlohweißes, dünnes Haar umrahmte ein ausgezehrtes, knochiges Gesicht mit grauen Bartstoppeln. Auch er trug einen vergifteten Dolch unter seiner braunen Lederkutte. Doch ging er nach Möglichkeit jedem Nahkampf aus dem Weg, weil er dabei hoffnungslos unterlegen gewesen wäre. Seine aus der Unterwelt beschworenen Skelette und Zombies erledigten die schmutzige Arbeit für ihn.
Hinter Livingdead beobachtete Wiseman die Umgebung. Die Hauptaufgabe des Priesters aus dem zweiundachtzigsten Level bestand darin, verwundete Gildenmitglieder aus sicherer Entfernung mit seinem Segenszauber zu heilen. Er hatte dichtes, goldblondes Haar und strahlend blaue Augen. In seinem schneeweißen Gewand sah er aus wie einer der amerikanischen Fernsehprediger.
Als Kämpfer war er nicht zu gebrauchen, allerdings auch nicht so leicht umzubringen. Er konnte die Mitglieder der Gruppe und sich selbst durch Zauber und Heiltränke in kürzester Zeit von Verletzungen und Vergiftungen heilen. Außerdem war er in der Lage, für eine begrenzte Zeit einen undurchdringlichen Schutzschild um eine Person zu erzeugen, der diese nahezu unverwundbar machte.
Komplettiert wurde die Gruppe durch Donnergott, der im wahren Leben Tobi Krüger hieß und Hendriks einziger Freund war. Der Barbar trug lange, schwarze Haare, die von einem roten magischen Stirnband gehalten wurden. Donnergott hatte die Gestalt eines Bodybuilders. Bekleidet war er mit einem braunen Lendenschurz, Lederwams und Lederstiefeln.
Im Kampf stand er mit seiner mächtigen Axt an vorderster Front, Seite an Seite mit ihm selbst, dem Paladin Hard2drive. Henriks Avatar war ein Meter fünfundachtzig groß, schlank und trug mittellanges, braunes Haar. Sein markantes Gesicht fiel auf durch das kräftige Kinn und die strahlend blauen Augen.
Ein Paladin war eine Art mittelalterlicher Ritter. Hard2drive trug eine prächtige, silberne Rüstung. Jeder Bestandteil seiner Ausrüstung besaß magische Zusatzeigenschaften.
Der Helm Schattenzahn war zum Beispiel in der Lage, durch einen Zauber jeden angreifenden Gegner zu verlangsamen. Mit dem Schwert Seelenschinder konnte Hard2drive eine Frostschutzaura aktivieren, welche die Attacken des Feindes abschwächte. Ähnliche geheimnisvolle Attribute besaßen auch sein Dolch, die Halskette, der goldene Ring sowie die gepanzerten Handschuhe und Stiefel. So trat er vor seine Gilde und verkündete die Gefechtsordnung.
Hard2drive: Shiva, du gehst in den Schleichmodus und kundschaftest die Schlucht vor uns aus. Wenn du den Feind siehst, gibst du uns ein Zeichen.
Shiva-Warrior nickte nur kurz zur Bestätigung.
Hard2drive: Gut. Danach folgen Donnergott und ich in einem Abstand von fünfzig Metern. Wir werden den Hauptangriff der Trolle auf uns nehmen. Deadlysorc sichert unsere linke Flanke mit ihrem Feuerregen. Livingdead übernimmt die rechte Flanke und deckt sie durch seine Skelettkämpfer ab. Wiseman hält sich ganz im Hintergrund und heilt aus sicherer Distanz die Verwundeten. Alles klar?
Alle nahmen ihre Plätze in der Schlachtordnung ein. Shiva war schon in die Teufelsschlucht eingedrungen. Die anderen folgten ihm in der verabredeten Reihenfolge. Es war kurz vor Sonnenuntergang.
Sie marschierten in Kampfformation durch das steinige, mäanderförmig gewundene, ausgetrocknete Flussbett. Zu beiden Seiten des Weges wuchsen in dichten Reihen pinienartige Bäume, die sich bis zu halber Höhe der Schluchtwand hinaufzogen. Bizarre Felsformationen und Vorsprünge behinderten zusätzlich die Sicht auf das, was möglicherweise vor ihnen lauerte.
Hard2drive: He, Shiva! Wo bist du? Hast du was gefunden?
Shiva-Warrior: Alles ruhig, Pala. Nichts zu sehen. Bin etwa dreihundert Meter vor euch. Die Schlucht steigt jetzt steil an. Aber … Oh, schiet!
Hard2drive: Was gibt's?
Shiva-Warrior: Vor mir öffnet sich die Schlucht zu einem breiten Tal. Da unten ist das Lager der Trolle. Ich sehe mehrere Holzhütten und ein Lagerfeuer. Und … Ich muss weg! Die Scheißkerle haben mich gesehen.
Der Paladin zog sein Schwert und klappte das Visier herunter. Donnergott schwang brüllend die nagelbesetzte Keule über seinem Kopf. Beide setzten sich wie auf ein geheimes Kommando in Bewegung und rannten vorwärts. Die anderen Gildenmitglieder folgten in der vorgeschriebenen Formation.
Als sie um den nächsten Felsvorsprung bogen, tauchten plötzlich drei Trolle vor ihnen auf. Sie sahen mit ihren klobigen, schwarz behaarten Körpern und Gesichtern furchterregend aus. Die winzigen roten Augen starrten die Kämpfer böse und heimtückisch an.
Die Trolle waren mit Kurzschwertern bewaffnet, deren Klingen grünlich glänzten, ein untrügliches Zeichen, dass die Waffen mit Gift bestrichen waren. Zähnefletschend, mit Fäden ziehendem Schaum vor den Mäulern, griffen sie an.
Hard2drive und Donnergott erwarteten den Angriff Seite an Seite stehend. Der Paladin schwang sein Schwert und der Waffenarm des vordersten Trolls flog abgetrennt durch die Luft. Eine Blutfontäne spritzte pulsierend aus der klaffenden Wunde am Rumpf des Ungeheuers, das zu Boden stürzte und grässliche Kreischlaute ausstieß.
Den zweiten Gegner erledigte Donnergott durch einen Hieb mit der Axt, der den Schädel des Feindes mit einem kurzen Knirschen zertrümmerte.
Troll Nummer drei fiel über den Körper seines niedergestreckten Kameraden und wurde durch einen Schwertstreich des Paladins erlegt.
Ohne die drei Leichen zu beachten, lief der Trupp weiter. Kurz darauf standen die Kämpfer auch schon am Eingang des Talkessels, in dem sich das Dorf der Trolle ausbreitete.
Nun sahen sie auch Shiva-Warrior, der sich augenscheinlich in Schwierigkeiten befand. Er stand wie zur Salzsäule erstarrt inmitten einer Gruppe von fünf Trollen, die unablässig mit Knüppeln und Schwertern auf ihn einschlugen.
Shiva musste seinen Abwehrschirm aktiviert haben, sonst wäre er schon längst tot gewesen. Doch das bläuliche Schimmern um den bewegungslosen Körper des Schurken zeigte, dass etwas nicht stimmte.
Deadlysorc: Shiva wurde von einer Frostaura getroffen. Einer der Trolle muss Magier sein.
Hard2drive: Schon klar. Da hinten zwischen den Pinien sehe ich das Bürschchen.
Etwa fünfzig Meter rechts von