Während Heavy-Metal-Klänge von Paradise Lost ertönten, erzählte Tobi weiter. »Der Typ gründete vor etwa zehn Jahren die Gilde der ehrwürdigen Schlangenmutter, die mittlerweile fast tausend Mitglieder hat. Überall triffst du auf Mitglieder der Gilde, die vor allem neue Spieler anquatschen und anwerben. Sie handeln mit magischen Gegenständen und treiben sich in allen Auktionshäusern rum, um sich bisher unbekannte, mächtige Items unter den Nagel zu reißen.«
Henrik hörte interessiert zu. Er ahnte, dass hinter der Geschichte mehr steckte als die Drohung eines beleidigten Magiers, dem ein Armreif abhandengekommen war. »Auf was für Gegenstände sind die Typen denn besonders scharf?«
Er rülpste ungeniert die Kohlensäure seiner Kola aus und tätschelte behutsam seinen Bauch.
»Oh, alles Mögliche.« Tobi schüttelte ekstatisch seinen Igelkopf zum Rhythmus der Dreadful Shadows und stampfte mit den Füßen. »Aber vor allem suchen sie nach interessanten Setgegenständen.«
Henrik runzelte fragend die Stirn. »Setgegenstände?«
»Ja, Sets.« Tobi fischte aus seinem leeren Kolaglas einen Eisklumpen und begann ihn zu lutschen. »Du weißt schon … eine Kampfausrüstung, bei der die einzelnen Gegenstände zueinander gehören. Jeder Setgegenstand, der hinzukommt, erhöht den Wert der Gesamtausrüstung mehr als es der Summe der Einzelgegenstände entspricht.«
Henrik glotzte Tobi mit offenem Mund an. »Jetzt redest du wie mein früherer Mathelehrer, der bösartige Drecksack.« Vor lauter Empörung entwich ihm ein lang gezogenes Furzen, das sogar die harten Riffs von Love like blood übertönte.
Tobi stieß ein begeistertes Kreischen aus und klatschte grölend in die Hände. Die drei Kerle vom Nachbartisch blickten verärgert und drohend zu ihnen herüber. Tobi starrte zurück und formte mit den Lippen die Worte: »Leck mich!« Dann wandte er sich wieder an Henrik.
»Also, hör zu. Das bekannteste Set heißt ›Der Zorn des Todeskriegers‹. Dazu gehören ein Dolch, ein Schild und ein Umhang. Der Dolch für sich alleine macht nicht viel her. Wenn der Schild allerdings dazukommt, verursacht auch der Dolch zusätzlichen Feuerschaden. Kommt dann noch der Umhang hinzu, ist der Dolch zusätzlich noch vergiftet und der Schild wird unzerstörbar.«
Henrik nickte anerkennend. »Wow! Ist ja stark! Ich erinnere mich jetzt auch, darüber vor Jahren in der Spielanleitung gelesen zu haben. Bisher bin ich aber noch keinem Player begegnet, der mit so einem Set auf mich losgegangen ist.«
»Na klar.« Tobi zuckte wegwerfend mit den Schultern. »So ein Set zu finden, ist wie ein Sechser im Lotto. Und einzelne Setgegenstände für sich sind nicht viel wert. Daher tauschen die meisten Player einen solchen Gegenstand schnell wieder gegen ein anderes Item ein.«
»Und dieser krumme Hund, der sich Lord Dragon nennt, versucht also im ganz großen Stil, solche Sets zu ergattern«, murmelte Henrik.
»Endlich ist bei dir der Groschen gefallen, Kumpel.« Tobi tat, als müsse er sich erschöpft den Schweiß von der Stirn wischen. »Mittlerweile soll er vier oder fünf Sets komplett haben.«
Henrik pfiff anerkennend durch die Zähne. »Kompliment. Doch was will der Schwachmat damit? Sein fetter Arsch passt doch auch nur in ein Set.«
»Wer weiß? Vielleicht hat er noch nicht das gefunden, wonach er eigentlich sucht«, meinte Tobi gleichmütig.
Henriks Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ja, so konnte es sein! Der Armreif war Bestandteil eines Sets, auf das dieser Lord Dragon scharf war. Er nickte bedächtig.
»Okay, dann werde ich mit dem Typ reden, wenn nächste Woche unser alljährliches Gildentreffen stattfindet. Vielleicht erzählt er mir nebenbei einige interessante Dinge über diesen bekifften Magier.«
Die drei Typen vom Nebentisch starrten wieder ungeniert zu ihnen herüber. Tobi starrte zurück, stand plötzlich auf, drehte sich um, zog seine Jeans herunter und streckte ihnen wackelnd den nackten Hintern entgegen.
Henrik wandte sich kopfschüttelnd ab. »Lass das doch, du blöder Penner. Ich will keinen Ärger mit diesen schwindsüchtigen Sargschläfern!«
Grinsend zog Tobi die Hose hoch und wandte sich Henrik wieder zu. Ohne auf die letzte Bemerkung des Freundes einzugehen, fragte er: »Was willst du überhaupt von dem Kerl? Du hast seinen coolen Zauberreif und das war’s, oder?«
Henrik packte Tobi wütend am T-Shirt und zischte ihm heftig ins Ohr. »Hör mal zu! Ich lasse mir von einem mondsüchtigen Magier nicht drohen, und schon gar nicht aus dem Munde dieses billigen, tuntigen Druiden. Hast du das verstanden?«
Tobi wagte nur, erschrocken zu nicken. Langsam ließ Henrik ihn los. Scheinbar ruhig sprach er weiter: »Außerdem …«, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und Heimtücke klang aus seiner Stimme, »außerdem, wer weiß? Vielleicht hat dieser W8_4_N8 noch mehr schöne Sächelchen zu verschenken, hm?« Schweigen.
Doch als Tobi begriffen hatte, worauf sein Kumpel hinaus wollte, sprang er auf und knuffte anerkennend in Henriks Speckbauch, sodass dieser aufstöhnte. »Du bist ein Teufelskerl, Hard2drive. Wir werden es diesem geheimnisvollen Angeber schon zeigen!« Und dann drehte er sich unvermittelt zu den Kerlen am Nebentisch um und schrie: »Und euch auch, ihr blöden, blutarmen Kokser!«, wobei er sich obszön in den Schritt griff.
Gackernd und glucksend setzte er sich wieder, während Henrik nur fassungslos den Kopf schüttelte. Vom Tresen her schickte Frank besorgte Blicke in ihre Richtung. Die drei Gothicfreaks wandten sich jedoch ab und beachteten Tobi nicht weiter.
Der Rest des Abends verlief ereignislos. Die beiden Freunde blieben noch zwei Stunden sitzen, um die Zeit totzuschlagen, bis der Regen endlich nachließ, und weil sie hofften, dass Frank ihnen noch eine Kola spendierte. Da dies nicht geschah, standen sie schließlich auf und verließen das zwielichtige Lokal.
Mittlerweile hatte es tatsächlich aufgehört zu regnen. Als sie auf der nächtlich dunklen Straße standen, gähnte Tobi lange und herzhaft.
»Komm Alter, geh’n wir nach Hause! Ich muss pennen. Kann ich mit zu dir? Ich hab keinen Schlüssel dabei, meine Alten liegen bestimmt stinkbesoffen im Bett und kriegen nicht mit, wenn ich klingle.«
Henrik nickte schicksalsergeben und winkte Tobi zu, ihm zu folgen. Doch als sie um die nächste Häuserecke bogen, blieben sie vor Schreck wie angewurzelt stehen. Vor ihnen standen die drei Gothictypen.
»Na, ihr zwei Turteltäubchen. Wen haben wir denn da?«, fragte der größte und offensichtlich der Anführer der drei. Er hatte einen bedrohlich aussehenden Baseballschläger in der rechten Hand, mit dem er sich demonstrativ in die linke Handfläche schlug. »Geht’s nach Hause in die Heia zum Schmusen?« Seine Kumpel stießen ein dreckiges Lachen aus und klopften sich vor Begeisterung auf die Schultern.
Henrik wurde kreidebleich. Ein Kloß steckte ihm im Hals und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hätte tot umfallen wollen, als er hörte, wie Tobi antwortete: »Wenn du willst, kannst du mitkommen. Wir brauchen noch jemanden, der uns in den Schlaf bläst.«
Die drei hörten auf zu lachen. Der Anführer schien noch bleicher zu werden, als er ohnehin war. Speichel lief ihm aus dem rechten Mundwinkel. Er stieß ein tierisches Brüllen aus und stürzte sich, den Baseballschläger schwingend, mit seinen Begleitern auf Henrik und Tobi. Henrik blieb wie angewurzelt stehen, zu keiner Bewegung fähig. Er fühlte nur, wie seine Hose im Schritt feucht wurde. Tobi aber verschwand wie der Blitz auf Nimmerwiedersehen um die Hausecke.
Wie eine Dampfwalze brach das Unheil über Henrik herein. Der erste Schlag traf sein Nasenbein und den Oberkiefer. Er klappte wie ein Dominostein zusammen und spürte, wie ihm das Blut aus Nase und Mund quoll. Instinktiv rollte er sich zusammen und presste die Arme schützend über Kopf und Gesicht. Die Schläger traktierten ihn mit Faustschlägen und Tritten. Dabei stießen sie ein animalisches Grunzen und Keuchen aus.
Das