»Es ist ein Fluch«, beendete er ihren Satz, woraufhin ihr eine Träne über die Wange rollte und sie hastig nickte. Aus Reflex griff er nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sie zu berühren, das war so gar nicht seine Art, und dennoch hatte er aus einem Impuls heraus gehandelt.
Vidya schien nicht weniger überrascht von seiner Reaktion, doch sie zog ihre Hand nicht weg. Stattdessen lächelte sie und nahm erneut einen Schluck aus ihrer Tasse. Es war ihm ein Rätsel, wie sie trotz ihrer Blindheit so geschickt im alltäglichen Umgang mit Gegenständen sein konnte.
»Keine Sorge, Detective«, versuchte sie, die Stimmung ein wenig aufzuhellen, »ich komme schon klar.«
»Wirklich?« Er hatte nicht vor, so besorgt zu klingen, aber er war nun mal skeptisch. Von Geburt an.
»Ja. Wirklich!« Ihr zaghaftes Lächeln verwandelte sich in ein lautes, herzliches Lachen. »Man könnte ja meinen, Sie machen sich Sorgen?«
Er wusste, dass sie ihn nur aufzog, dennoch wollte er antworten. »Natürlich. Jetzt wo wir gemeinsam ermitteln.« Er wählte mit Bedacht dieselben Worte wie sie gestern und ließ sie einen Moment lang nachwirken.
Augenblicklich zuckten ihre Mundwinkel. »Es freut mich, dass wir nun Partner sind, Detective.«
»Ich hatte noch nie einen Partner«, gestand Taylor ehrlich und gab der Bedienung ein Zeichen zum Nachschenken.
»Es gibt für alles ein erstes Mal!« Vidyas anzügliche Antwort überraschte ihn nicht. Sie hatte Feuer, das hatte er gleich gespürt. Und damit spielte sie gern. Trotzdem musste er versuchen, sie als das zu sehen, was sie war. Sie stand ihm lediglich beratend zur Seite, eine Art Arrangement, darauf hatte er sich mit dem Chief geeinigt, und er trug die alleinige Verantwortung. Für sie beide.
»Das ist wahr!« Amüsiert beobachtete er die Kellnerin, die zuerst Vidya und dann ihm erneut nachschenkte. Ihr Lächeln war freundlich, ihre Stimme zuckersüß. Der Ausschnitt ihrer Bluse allerdings ein bisschen zu tief für seinen Geschmack. Er wollte nicht ihren Bauchnabel sehen. Wenn Frauen große Brüste hatten, war das in Ordnung, aber sie mussten ihm nicht gleich auf einem Silbertablett serviert werden. Etwas weniger auffällig wäre auch nett.
Nachdem sie sich wieder von ihrem Tisch entfernt hatte, richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf seine neue Partnerin, die ihn ziemlich ungeniert von oben bis unten ansah. Doch schon einen Bruchteil von einer Sekunde später fiel ihm wieder ein, dass sie blind war. Und dennoch … es war, als würde sie ihm bis auf den Grund seiner Seele blicken. Und sie hatte etwas auf dem Herzen. Das stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Was ist los?«, fragte er, und reduzierte dabei ein wenig seine Lautstärke. Es musste ja nicht jeder hören, worüber sie sprachen. »Sie sehen aus, als würden Sie gleich platzen.«
»Ich bin beeindruckt, Detective!« Zum Beweis zog sie eine Augenbraue hoch. »Sie sehen also zumindest, wenn Ihr Gegenüber etwas von Ihnen will.« Sie machte eine kurze Pause, um ihm Raum zum Nachdenken zu geben. »Aber was sich direkt vor Ihren Augen abspielt, das Offensichtliche, sehen Sie nicht. Das ist interessant!«
Erneut wirkte sie amüsiert, beinahe belustigt. Dabei hatte er keinen blassen Schimmer, was los war. Worauf wollte sie hinaus? Er hoffte auf ein Zeichen, irgendetwas, damit er endlich verstand, was sie ihm sagen wollte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie ihn hatte schmoren lassen, folgte er ihrem Blick Richtung Tresen, zur Bedienung.
»Die Kellnerin?«, rief er überrascht. »Was ist mit ihr?«
»Echt jetzt?« Sie trank genüsslich einen Schluck Kaffee, bevor sie ihn endgültig erlöste. »Haben Sie das nicht bemerkt? Das Zittern in ihrer Stimme, bedingt durch die Nervosität? Der herbe Duft ihres Parfums? Ihre Atmung, die sich beschleunigte, sobald Sie mit ihr gesprochen haben?«
Was? Erschrocken blickte er zuerst Vidya und dann die freundliche Kellnerin an, die seinen Blick umgehend erwiderte. Seine Kinnlade klappte ihm herunter. War das möglich?
»Keine Sorge, Detective«, lachte sie leise, »ich werde Ihnen nicht im Weg stehen.«
»Ha!«, schnaubte er abfällig. Soweit käme es noch. »Ich schätze, Sie interpretieren da zu viel hinein. Außerdem haben wir weitaus Wichtigeres zu tun.« Um ihr gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, weiter über die Bedienung zu reden, lenkte er das Gespräch zurück auf ihre Visionen. »Sie haben heute Morgen noch von einer anderen Vision gesprochen. Können Sie mir noch einmal genau erzählen, was Sie gesehen haben?«
»Für Sie? Immer gern!« Vidya atmete tief ein und aus, straffte ihre Schultern und griff erneut zu ihrer Kaffeetasse. Dieses Mal hielt sie sie so krampfhaft fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Mir war kalt. Eiskalt. Und überall um mich herum hingen gut ein Dutzend Körper an massiven Fleischerhaken, mit dem Kopf nach unten und mit glänzenden Ketten, die um ihre Fußknöchel geschlungen waren. Sie alle waren mit Reif überzogen.«
Sie erschauerte, das bemerkte er sofort. Die Gänsehaut auf ihren Armen war nicht zu übersehen. Wenn er ehrlich war, ging es ihm ähnlich. Zwar gruselte er sich nicht so sehr wie sie, dennoch spürte er einen kalten Schauer über seinen Rücken jagen. »Und dann?«
»Tja, dann bin ich aufgewacht. Wobei …« Sie zog die Stirn kraus und presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Irgendetwas war da noch. Das wusste er. »Kurz bevor ich aufwachte, sah ich Licht. Es kam durch einen Spalt in der Tür, aber es war … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«
»Versuchen Sie es!«, ermutigte er sie. »Sie machen das hervorragend.« Seine Worte waren keine leeren Floskeln, denn er glaubte ihr. Oder wollte es zumindest.
»Ich glaube, es war kein Licht wie von einer Lampe. Es muss etwas anderes gewesen sein, denn es bewegte sich. Es flackerte, wie bei einer Fackel, glaube ich. Aber das klingt seltsam, oder?«
»Garantiert nicht! Es wäre nicht das Schrägste, das ich in den letzten 24 Stunden gesehen habe.« Sofort zermarterte er sich das Gehirn. Ein Kühlraum. Fackeln. Das war tatsächlich sehr bizarr. »Sie sagten, die Leichen wären ebenfalls alle aufgeschnitten gewesen, oder?«
Vidya nickte, bevor sie antwortete. »Ja, genau.«
»Hrm. Irgendwie habe ich das Gefühl, diese Fälle hängen zusammen, aber sicher bin ich mir nicht. Dennoch haben wir jetzt zumindest einen Anhaltspunkt!«
»Ach ja?« Sie klang überrascht.
»Das Kühlhaus. Ich denke, da sollten wir ansetzen. Das ist unsere beste Spur.«
Nun lächelte sie, und endlich verschwanden die Sorgen und Ängste aus ihrem Gesicht. »Na dann, worauf warten wir noch?«
Taylor schmunzelte. Diese Frau war wirklich ganz nach seinem Geschmack. Rasch winkte er der Kellnerin. Da er wusste, dass Vidya alles mitbekam, blieb er freundlich, gab ordentlich Trinkgeld und reichte ihr dann erneut seinen Arm. Sie strahlte, als sie sich bei ihm eingehakt hatte und sie gemeinsam zu seinem Pick-up gingen. Fast so, als ob sie etwas wüsste, das er nicht wusste.
Als er einen Blick auf die Quittung warf, traute er seinen Augen nicht. Lucy, die Bedienung, hatte ihm tatsächlich ihre Handynummer auf die Rückseite gekritzelt. Scheiße!
Das durfte Vidya auf gar keinen Fall erfahren, andernfalls würde sie ihn vermutlich ewig damit aufziehen.
Kapitel 6
Schweißgebadet und mit einem Schrei fuhr Vidya im Bett auf. Dabei katapultierte sie ihren überrascht fauchenden Kater durchs Schlafzimmer. Sie hörte ihn hinter dem Fußende auf den Boden plumpsen, war aber viel zu aufgewühlt, um sich gedanklich auf das Tier einstellen zu können.
Noch gefangen im Traum betastete sie ihren Oberkörper, davon überzeugt, dort warme Nässe, Blut, zu spüren. Vor Erleichterung schluchzte sie auf, als ihre Finger nur über die feuchte Seide ihres Nachthemdes glitten. Mit zittrigen Knien stand sie auf und ging um das Bett herum.
»Zorro?