An der Ampel räusperte sich Taylor. Sie wandte ihm das Gesicht zu und hörte ihn überrascht einatmen. Viele Menschen glaubten, Blinde könnten ihr Gegenüber nicht fixieren, würden immer an ihm vorbeisehen. Aber auch wenn ihre Augen ihn nicht wahrnahmen, konnte sie ihm dennoch ins Gesicht blicken.
»Leben Sie schon lange in Londonderry, Vidya?«
Smalltalk auf dem Weg zu einer Leiche? Gut, wenn er meinte.
»Ich wurde hier geboren, Detective. Meine Eltern lernten sich auf dem College kennen. Meine Mutter ist Lehrerin an der örtlichen High School, mein Vater ist bei der Feuerwehr. Irische Tradition, sagt er.«
Er gab ein leises „Hrm“ von sich, dann sprang die Ampel auf Grün und es ging weiter. Vidya krallte sich am Sitz fest, als er ungefähr zwanzig Minuten später von der Hauptstraße auf den mit Schlaglöchern übersäten Schotterweg zur alten Deponie abbog.
»Verwischen wir so nicht mögliche Reifenspuren desjenigen, der die Leiche hergebracht hat?«
Sie schrie auf, als er hart auf die Bremse trat und sie nach vorn geschleudert wurde. Reflexartig fing er sie mit dem rechten Arm ab, ehe der Gurt sie stoppte.
»Tut mir leid! Geht’s Ihnen gut?«
Er packte sie an der Schulter und half ihr, sich wieder richtig hinzusetzen. Dann fluchte er wie ein Droschkenkutscher aus dem Central Park. »Ich fass es nicht, dass ich mich von einem Kleinstadtmedium daran erinnern lassen muss, wie man einen potenziellen Tatort betritt!«
Wütend schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Allerdings schien er sich mehr über sich selbst als über sie zu ärgern. Voller Unbehagen zog sie den Gurt zurecht.
»Ich wollte Sie nicht kri…«, setzte sie an, wurde aber sofort von ihm unterbrochen.
»Ist nicht Ihre Schuld. Ich war mit den Gedanken woanders. Sie haben natürlich vollkommen recht. Wir sollten den Rest zu Fuß gehen.«
Er stellte den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Metall quietschte, als er ausstieg, die Tür zuwarf und dann auf knirschendem Kies zu ihr herüberkam. Bevor er ihr jedoch helfen konnte, war sie schon allein ausgestiegen.
»In der Vision sah ich einen sehr großen, alleinstehenden Baum. Wenn ich mich richtig erinnere, steht genau im Zentrum des Geländes so einer.« Wieder fühlte sie seinen Blick.
»Sie waren nicht immer blind?«
Sie schüttelte den Kopf, während sie ihren Blindenstock aus ihrer Handtasche hervorholte, ihn aufklappte und sich dann, die Tastspitze von links nach rechts über den Boden schwingend, in Bewegung setzte.
»Ein Unfall. Ich war ungefähr sechzehn und einer der Teenager, von denen ich vorhin sprach.«
Sie lächelte schmal, als sie sich an die Abende mit billigem Dosenbier und lauter Musik aus Ghettoblaster-Boxen erinnerte und dem Detective erzählte, was damals passiert war.
»Wir feierten den ersten Springbreak-Tag. Alle aus unserer Klasse waren hier. Die Cheerleader natürlich in knappen Röcken und bauchfreien Tops, jede auf der Jagd nach Anerkennung und einem Jungen für die Nacht. Billy Jenkins, der Quarterback des High-School-Teams, besaß einen gelben Mustang. Ich platzte fast vor Stolz, als er mir erlaubte, mitzufahren. Ich weiß noch, wie ich mich mit einem triumphalen Grinsen zu Lindsay Davenger umgedreht habe, ehe ich einstieg. Jeder nahm an, dass Billy sich auf sie einlassen würde. Sie war Captain des Cheerleading-Teams, Tochter eines reichen Unternehmers. Und hübsch war sie auch noch. Aber er wollte mich. Die dunkelhaarige Außenseiterin aus der Bibliothek. Die, die sonst übersehen wurde. Hätte ich geahnt, wie der Abend endet, hätte ich dem verwöhnten Gör bereitwillig den Vortritt gelassen.«
Ihre Miene verfinstere sich, als vor ihrem inneren Auge die weiteren Ereignisse der Nacht abliefen wie ein Film.
»Billy forderte einen Preis dafür, dass er mich in sein Auto ließ. Er verlangte von mir, mich von ihm anfassen zu lassen. Dass er mit seinen Kumpels eine Wette abgeschlossen hatte, das Mauerblümchen noch vor dem Abschlussball zu entjungfern, habe ich erst später erfahren. Ich habe mich geweigert und in dem Gerangel, als er versuchte, mir dennoch die Hand unters Kleid zu schieben, hat er die Kontrolle über den Wagen verloren. Wir sind von der Straße abgekommen und frontal gegen einen Baum gekracht. Als ich nach drei Wochen im Krankenhaus aus dem Koma aufgewacht bin, war Billy tot und meine Welt schwarz. Die Ärzte erklärten mir, dass durch den Unfall mein Gehirn angeschwollen war und auf den Sehnerv gedrückt habe. Dieser sei dadurch irreparabel geschädigt worden.«
Der Detective atmete tief durch.
»Bitte keine Mitleidsbekundungen, die hatte ich, weiß Gott, genug«, setzte sie nach und glaubte zu hören, wie er den Mund wieder schloss. Dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie hörte ihn hektisch in seiner Manteltasche kramen, vermutlich auf der Suche nach seinem Handy.
»Zentrale, hier Detective Scott. Brauche auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie sofort Verstärkung. Inklusive Spurensicherung und Gerichtsmediziner. Reifenspuren in der Zufahrt sichern. Scott Ende.«
Vidya vernahm die Bestätigung der Zentrale, dann trat Taylor zu ihr und griff nach ihrem Arm. Er sagte nichts, aber sie spürte sein Entsetzen. Zudem wusste sie längst, was er sah. Leider.
Am Fuß des Baumes stand eine mannshohe, bronzene Waage. In der rechten Schale lag eine Straußenfeder, in der linken, die tiefer hing, ein menschliches Herz. Neben dieser an sich schon verstörenden Installation lag eine Frau mit seltsam steifer Frisur auf einem niedrigen, mit einem weißen Tuch verhängten Tisch. Die schwarzen Haare schienen der Schwerkraft zu trotzen. Sie war unbekleidet und so fiel der Blick des Ermittlers direkt in den weit geöffneten, leeren Brustkorb. Brustbein und Rippen fehlten, auf den durch das Gewebe schimmernden Brustwirbeln waren unterschiedlich große Schmucksteine platziert worden. Detective Scott schluckte hart.
»Und das … sie … hat Ihnen Ihre Vision gezeigt?«
»Ja. Und sie ist nicht die einzige. «
»Verflucht! Sie werden mir genau beschreiben, was Sie gesehen haben.«
Vidya nickte mit Tränen in den Augen, während aus der Ferne Sirenengeheul näherkam.
Kapitel 3
Was für eine Nacht. Taylor hatte kaum ein Auge zugemacht. Obwohl er schon viele Morde und Schauplätze von Verbrechen gesehen hatte, war die Entdeckung der Leiche an der alten Mülldeponie etwas Besonderes für ihn gewesen. Die Art und Weise, wie sie drapiert worden war, ließ ihn erschauern. So eine perfide Darbietung bekam man selbst in New York nicht oft zu sehen.
Dass noch einige andere Einwohner Londonderrys verschwunden waren, ließ ihn bereits vom Schlimmsten ausgehen. Einem Serienmörder.
Gern hätte er Vidya gestern Abend weiter dazu befragt, doch das Aufgebot der Polizei, Tatortermittlung und Spurensicherung hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles im Auge zu behalten und vor allem klarzumachen, dass es sein Fall war. Und dass das auch so bleiben würde, komme was wolle!
Der Obduktionsbericht war vor etwa einer halben Stunde auf seinem Schreibtisch gelandet. Er war unglaublich informativ. Selten hatte er so viel Text in einer Akte vorgefunden.
Bei dem Opfer handelte es sich um Sarah Norrington, eine junge Frau, gebürtig aus Boston. Sie war vor vier Tagen als vermisst gemeldet worden. Der Todeszeitpunkt ließ sich eingrenzen auf den 15. Juli zwischen 9 und 15 Uhr. Als Todesursache war angegeben: massiver Blutverlust durch Fremdeinwirkung. An sich nicht weiter verwunderlich.
Doch alles andere war einfach nur ungewöhnlich. Anders konnte er es nicht beschreiben. Sarah wurde mit einer extrem scharfen Klinge aufgeschlitzt und anschließend ausgeweidet. Die unruhigen Schnittkanten ließen vermuten, dass sie währenddessen sogar noch gelebt haben musste. Zumindest anfangs. Wie barbarisch!
Die