»Siehe, oh Herr, das Opfer wurde gereinigt und gesalbt, dir Ehre zu bringen. Sei nun Zeuge der Öffnung und segne mich.«
Den Blick auf das Gesicht der Statue gerichtet, ergriff er die Obsidian-Klinge, übergoss sie mit klarem Wasser und trocknete sie sorgfältig ab. Dann beugte er sich über die Frau.
»Ich werde nun die Fesseln lösen. Du wirst aufstehen und dich auf den Altar zu Füßen des Gottes legen. Du wirst nicht versuchen, zu fliehen. Du wirst nicht versuchen, mich anzugreifen. Du wirst es bitter bereuen, wenn du es doch tust.«
Er wartete, bis sie, nun bebend vor Angst und mit der blanken Panik in den blaugrünen Augen, nickte. Als er ihre Fußgelenke befreite, zog sie instinktiv die Beine zusammen, um ihm den Blick in ihre Spalte zu verwehren. Insgeheim amüsierte es ihn. Wie wichtig den Menschen doch ihre Schamhaftigkeit war, selbst im Angesicht des Todes. Er löste den letzten Riemen und ergriff ihren Oberarm, geleitete sie ins Allerheiligste und half ihr, sich auf dem Altar auszustrecken. Nacheinander schloss er die vergoldeten Eisenmanschetten um ihre Gelenke, fixierte sie auf dem schwarzen Stein. Er spürte ihren Blick. Ein Teil von ihm labte sich an ihrer Angst, genoss es, wie der Schrecken in ihren Augen mit jeder Sekunde größer wurde. Erregung überkam ihn, als er die Spitze des Messers auf ihrem Brustbein ansetzte.
Als er die scharfe Klinge mit einer fließenden Bewegung bis zum Bauchnabel durchzog, erschauerte er und ergoss sich in den Stoff seines Schurzes. Die Frau schien im ersten Moment gar nicht zu realisieren, was er getan hatte. Dann hob sie etwas den Kopf und als sie das Blut, ihr Blut, sah, begann sie zu schreien. Sie schrie, bis der Schmerz ihr Gehirn erreichte und ihr das Bewusstsein nahm.
Er legte das Messer zur Seite, ging nach nebenan und zog sich einen frischen Leinenrock an. Erleichtert und gereinigt kehrte er zu seinem Opfer zurück und wartete darauf, dass sie wieder zu sich kam.
Er war noch lange nicht fertig mit ihr.
Kapitel 5
»Wohin gehen wir?«
»Wir genehmigen uns jetzt den Kaffee, von dem ich vorhin gesprochen habe«, erklärte Taylor und führte Vidya erhobenen Hauptes aus dem Polizeirevier. Er wusste, dass er das Gesprächsthema schlechthin war. Erneut spürte er all die neugierigen, beinahe entsetzten Blicke seiner Kollegen und Kolleginnen im Rücken. Und genau wie gestern störte es ihn nur marginal.
Seit der Standpauke des Chiefs waren nicht einmal fünf Minuten vergangen und dennoch hatte er völlig vergessen, was er ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Er war es eben nicht gewohnt, Befehle zu befolgen. Das lag einfach nicht in seiner Natur.
In New York war er das Alphamännchen gewesen, der Anführer der Task Force. Da würde er hier in Londonderry, trotz Degradierung, nicht damit anfangen, kleine Brötchen zu backen. Und dass er einen Fall an Land gezogen hatte, der Kreise ziehen würde, stand so fest wie das Amen in der Kirche.
Wenn er ganz ehrlich war, wusste er längst, dass das eine Nummer zu groß für das Londonderry P.D war. Gut, dass er da war. Lächelnd führte er Vidya zu seinem Pick-up und half ihr beim Einsteigen.
»Dafür, dass Butcher Ihnen gerade ordentlich den Kopf gewaschen hat, sind Sie verdammt fröhlich«, schmunzelte sie. Ihre Stimme klang amüsiert und ihr Lächeln erreichte sogar ihre Augen, was er äußerst faszinierend fand.
Sobald er hinter dem Steuer seines Wagens saß, ging er auf ihren Kommentar ein. »Natürlich ist er verärgert. Sogar mehr als das! Ich habe über seinen Kopf hinweg entschieden! Das kratzt an seinem Ego.«
»Verstehe!«, stimmte sie ihm zu und nickte aufrichtig.
Während er den Pick-Up geschmeidig über die Straßen von Londonderry lenkte, schaute er immer wieder verstohlen zu seiner Beifahrerin. Warum zum Henker war der Chief so schlecht auf sie zu sprechen? Er hatte wirklich vorgehabt, ihn darauf anzuhauen, aber mal ganz davon abgesehen, dass er kaum zu Wort gekommen war, wollte er die Stimmung nicht noch weiter aufheizen. Und seine Zeit verschwenden schon mal gar nicht!
Außerdem wusste er, dass Vidya in seinem Büro saß und auf ihn wartete. Auf ihn. Es war merkwürdig, beinahe magisch, wie schnell er sich an sie gewöhnt hatte. An eine blinde Frau, die er erst seit kurzem kannte.
Nachdem sind den Parkplatz des Diners erreicht hatten, hielt er ihr erneut seinen Arm hin, den sie dankbar annahm. Ein Windstoß zerzauste ihre Haare, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Gleichzeitig hatte er den Geruch von Vanille in seiner Nase. Was für ein interessantes Shampoo!
Gemeinsam nahmen sie in einer kleinen Nische am Ende des Diners Platz und bestellten sich zwei Kaffee. Sie trank ihn schwarz, genau wie er. Das gefiel ihm. Wieder einmal bewunderte er ihre schlanke Silhouette, ihre dunklen Haare und vor allem ihre blau-grauen Augen. Was für eine exotische Kombination.
Nicht, dass es in New York keine schönen Frauen gab, aber so grazil und anmutig wie sie waren die wenigsten. Irgendetwas hatte diese Frau an sich, die einerseits so klug und vernünftig rüberkam, andererseits irgendwie auch schräg. Noch immer wusste er nicht, was er von ihren Visionen halten sollte. Er war lediglich in dem einen Punkt weitergekommen, dass er sich ein paar alte Akten angesehen hatte, um herauszufinden, was an ihren Behauptungen dran war.
Gegen seine ursprüngliche Vermutung, sie sei eine Schwindlerin, sprach auf jeden Fall, dass sie schon bei einigen Fällen hier in Londonderry geholfen hatte. Sie war keine Unbekannte. Na gut, bis gestern war sie das noch gewesen. Zumindest für ihn.
Heute war er gar nicht mehr so traurig darüber, dass seine Kollegen ihn absichtlich ins offene Messer hatten laufen lassen. Ganz im Gegenteil!
Ihre Anwesenheit veränderte ihn. Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, wieso und weshalb, aber er war bereit, es herauszufinden.
»Also, Detective, verraten Sie mir nun endlich, was Ihnen durch den Kopf geht?«
»Nichts Gutes«, maulte er mürrisch und nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee. Hätte er jetzt ehrlich geantwortet, hätte er ihr sagen müssen, dass er soeben an sie gedacht hatte. Doch wohin das geführt hätte, wollte er sich lieber nicht ausmalen, von daher lenkte er das Gespräch rasch in eine andere, ernstere Richtung. »Das Opfer, Sarah Norrington, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die Drapierung ihrer Leiche, dann die Sache mit der bronzenen Waage. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Ich auch nicht«, antwortete sie leise, und erneut war zu spüren, wie sehr sie das Ganze mitnahm. »Ich hatte schon viele Visionen. Wirklich. Doch im Moment … habe ich das Gefühl, sie werden um einiges intensiver.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte er direkt nach. Ihr Zögern war ihm nicht entgangen.
Vidya atmete tief ein und aus. »Das ist schwer zu beschreiben«, seufzte sie, »außerdem würden Sie mir ja doch nicht glauben.«
Diese Anspielung verstand Taylor sofort. Und irgendwie hatte er sie ja auch verdient. »Nun ja, Versuch macht klug, oder wie heißt es so schön?«
Er lehnte sich etwas zurück und fokussierte sein Gegenüber. Ihm war schon daran gelegen, dass sie ihm alles erzählte, was für den Fall relevant war. Ob er ihr dann glaubte, stand allerdings auf einem anderen Blatt.
»Na gut. Wie Sie wollen!« Leicht trotzig hob sie ihren Blick und sah ihm direkt in die Augen. Gruselig. »Bisher war es immer so, dass ich Dinge gesehen habe. Szenen … Ausschnitte … und diese konnte ich nach und nach zusammensetzen. Jetzt ist es beinahe so, als wäre ich ein Teil dieser Szenen.« Sie schluckte hart. »Ich konnte alles sehen. Den weit geöffneten, leeren Brustkorb, ihr Herz in der bronzenen Waage. Die Feder. Die Schmucksteine auf ihren Brustwirbeln. Der Blick aus ihren Augen, schmerzverzerrt.«
Taylor war schockiert. Irgendwie hatte er nicht mit einer so detaillierten Beschreibung