Wenn es um Gefühle geht, führt man gern das Temperament eines Menschen an: Es gibt ruhigere Menschen, die sich wenig aufregen, und solche, die immer gleich an die Decke gehen. Aber das sind unwesentliche Äußerlichkeiten. Da, wo der temperamentvolle Mensch explodiert, kann der »ruhige« Mensch einen jahrelangen unversöhnlichen Groll in sich aufbauen, bei dem sein Denken immer wieder um lange vergangene Verletzungen kreist, um die sich der aufbrausende schon nach Stunden nicht mehr schert. Nur weil man sie nicht gleich bemerkt, sind die Gefühle ruhigerer Menschen nicht weniger intensiv als die der temperamentvollen.
Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten, die nicht leicht überwunden werden können oder von denen man überwunden wird. An Zielen und Situationen scheitern kann ein ganz neuer, anderer Grad von Schwierigkeit sein (mehr dazu in Kapitel 4). Der Lebensweg eines weisen Menschen ist also davon geprägt, dass er mit seiner Freiheit umgehen kann. Er mag die Menschen und weiß sein Leben auch unter Schwierigkeiten zu gestalten. Aber noch eines zeichnet durch die Jahrhunderte und die Kulturen einen weisen Menschen aus: Er kann still sein und er kann zuhören.
Selten ein Fehler: Mund halten und zuhören
Nicht das erste Mal und nicht das letzte Mal schreibe ich in diesem Buch über das Reden und Schweigen. Das hat dieses Buch gemeinsam mit der Weisheitsliteratur der letzten paar Tausend Jahre. Dabei geht es eigentlich nicht nur ums Reden und Schweigen, es geht um das Gleichgewicht zwischen Reden, Schweigen und Zuhören. Wobei das Wort »Gleichgewicht« vielleicht einen falschen Eindruck vermittelt: Um Menschen verstehen zu können, müssen wir sehr viel mehr schweigen und zuhören als reden.
Gute Redner gibt es viele. Sicher auch unter den weisen Menschen. Aber um Menschen verstehen zu können, hilft das Reden nicht. Wichtig ist, dass Sie lernen, ein guter Zuhörer zu werden – ein Zuhörer, der aufmerksam ist und neugierig, der seinen Gesprächspartner verstehen möchte und deshalb auch manchmal erforscht:
Ein guter Zuhörer werden Sie dann, wenn Sie echtes Interesse an Ihrem Gegenüber entwickeln können und wirklich neugierig auf den anderen Menschen sind.
Ein guter Zuhörer muss nicht unbedingt viel sagen, aber doch Reaktionen zeigen: verständnisvolles Kopfnicken, betroffenes Kopfschütteln und auch kleine Bemerkungen wie »Das war sicher schwer!« oder »Das ist ja schön!«.
Eine hohe Kunst, die mit dem Reden zu tun hat, ist das Fragenstellen. Denn es ist nicht immer so einfach, einen anderen Menschen wirklich zu verstehen.
Manchmal werden Sie auch in der Pflicht stehen, Antworten zu geben. Das muss aber nicht immer eine Lösung sein. Durch mehr Fragen können Sie einem Menschen helfen, seine Perspektive zu wechseln. Manchmal können Sie sogar sagen, was Sie an seiner Stelle tun würden. Und manchmal werden Sie Ihre eigene Ratlosigkeit zugeben müssen, aber Ihrem Gesprächspartner sagen können, dass Sie ihn verstehen und er nicht allein ist.
Reden und schweigen, zuhören und fragen – in diesen Worten liegt der Schlüssel, um Menschen verstehen zu können. Die Weisheit eines Menschen wird sich auch immer daran messen lassen müssen, ob er diese vier Fähigkeiten mehr und mehr lernen und anwenden kann. Deshalb hat dieses Thema auch noch ein eigenes Kapitel verdient (siehe Kapitel 16).
Dieser Abschnitt hat Ihnen vier Bereiche gezeigt, die das Leben eines weisen Menschen ausmachen:
Ein weiser Mensch hat keine Angst vor seiner Freiheit, sondern kann sie genießen.
Ein weiser Mensch mag seine Mitmenschen und ist neugierig auf sie.
Schwierigkeiten und Probleme kann er als Teil seines Lebens annehmen, ohne ständig auf diese Welt und ihre Bewohner oder Gott und das Universum wütend zu sein.
Ein weiser Mensch ist ein guter Zuhörer, aber er weiß auch, wann er etwas sagen sollte. Wenn er etwas zu sagen hat …
Fast kann ich Sie nun hören, wie Sie die berühmte »Kinderfrage« stellen, die wir so oft auf Reisen hören: »Wann sind wir denn da??«
Immer kurz vor dem Ziel
Wann ist ein Mensch weise? Woran können Sie erkennen, dass Sie weise sind oder zumindest schon etwas weiser als früher? Die Antworten auf diese Fragen klangen schon früher an: Weisheit lernen bleibt ein Weg, auf dem uns irgendwann hoffentlich andere Menschen für weise halten werden. Sie werden es merken, wenn Menschen mit Ihnen reden möchten und Rat und Zuspruch suchen. Oder einfach nur einen aufmerksamen Zuhörer. Wenn Sie sich dazu entscheiden, Weisheit lernen zu wollen, nehmen Sie sich also ein spannendes Ziel vor, das im Grunde nur aus lauter endlosen Wegen besteht.
Weg der Weisheit: Offen bleiben
Meine hochgeschätzte Schwiegermutter war mit achtzig Jahren neugierig darauf, von unseren halb erwachsenen Kindern zu erfahren, wie das so ist, »Gras« zu rauchen. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass ich mit unseren Kindern zu der Zeit ganz andere Gespräche über das Rauchen von Gras geführt habe. Aber meine Schwiegermutter sprach mit den Halbwüchsigen darüber in einer offenen, humorvollen und von ehrlicher Neugier getriebenen Art. Mir persönlich spielten da die väterlichen Gefühle einen Streich, ohne Sorge und mahnende Worte konnte ich über dieses Thema nicht reden. Jedenfalls sieht man an meiner Schwiegermutter deutlich eine Eigenschaft, die die Psychologin Judith Glück der Weisheit zuschreibt: lebenslange Offenheit. Weise Menschen bleiben offen und neugierig auf Menschen und auf alles, was diese Welt so bereithält und ihnen über den Weg schickt.
Offen bleiben ist also eine wesentliche Fähigkeit, die wir für unser Leben brauchen, wenn wir weise werden wollen.
Für die Älteren von uns gilt, dass wir neugierig auf junge Menschen bleiben sollten. Die Jugend ist nicht schlechter als die Jugend früher. Immerhin findet sie sich in einer Welt zurecht, in der man jenseits der Lebensmitte schnell die Orientierung verliert.
Für die Jüngeren heißt »offen bleiben« zu versuchen, ältere Menschen zu verstehen. Früher war vielleicht nicht alles besser, aber auch nicht alles schlechter.
Wenn Menschen, die wir kennenlernen und verstehen wollen, einer anderen Generation oder Kultur angehören, brauchen wir vielleicht nicht nur persönliche Informationen. Wir brauchen manchmal ein wenig Geschichte (bei älteren Menschen) oder einen guten Einblick in die heutige Gesellschaft (bei jüngeren Menschen). Bei Menschen aus anderen Kulturen wird sicher Information aus beiden Bereichen hilfreich sein.
Lebenslanges Lernen und lebenslange Offenheit – das kann sich auf alles beziehen, was Sie interessiert: Vielleicht sind es neue Bücher, vielleicht ist es stundenlang in Wikipedia von einem zum anderen Artikel klicken. Vielleicht lernen Sie jetzt Aquarellmalerei oder Spanisch. Junge Leute können eine Menge aus YouTube-Videos lernen, ältere vielleicht eher aus der Zeitung oder dem Radio. Obwohl – wenn ich noch mal genau wissen will, wie man eine gebratene Ente tranchiert, schaue ich auch mal schnell bei YouTube nach. Gewisse Altersgruppen mögen vielleicht bestimmte Vorlieben und Gewohnheiten haben, was das Lernen angeht. Aber es bereichert auch ungemein, über seinen Horizont hinauszublicken, was wiederum eine Eigenschaft weiser Menschen ist.
In Teil II geht es dann um die Offenheit und die Bereitschaft