Zwischen Glaube, Mythos und Wahrheit
Man kann natürlich die Frage stellen, ob man den Mythos und Religion überhaupt unterscheiden kann, muss oder soll. Ist nicht die biblische Erzählung von Adam und Eva genauso ein Mythos wie es die Irrfahrten des Odysseus sind? Hier liegt der Unterschied sicher im Auge des Betrachters – oder in diesem Falle: im Auge des Gläubigen. Und das macht Religion so kompliziert. Denn was die einen Mythos nennen, nennen andere die Wahrheit. Und umgekehrt. Geht es um Religion heute, sind Gestalten wie Odin, Thor, Zeus oder Athene sicher weitgehend aus dem Spiel. Sie bleiben Mythen. Ganz anders sieht es aber dann doch zwischen Muslimen, Hindus oder Christen aus. Oder innerhalb verschiedener Ausprägungen einer Religion – wie zwischen Katholiken und Protestanten im Christentum oder den Sunniten und Schiiten im Islam. Deshalb gehe ich auf diese Fragen zu Mythos und Religion hier auch nicht weiter ein, das wäre ein ganz anderes Buch. An dieser Stelle ist nur wichtig, was wir lernen können.
Was jede Religion auch im Sinn hat, ist das gute, gelingende Leben der Gläubigen. Es geht nie nur darum, seine Beziehung zu Gott oder den Göttern oder das Leben nach dem Tode geregelt zu haben, sondern immer auch darum, wie man denn hier auf der Erde ein gutes Leben führen kann. An diesem Punkt sind wir bei den praktischen Handlungsanweisungen, die Religionen ihren Gläubigen an die Hand geben. Da haben sicher nicht alle Religionen die gleichen Themen. Aber da, wo es um das gute Leben geht, sind sie oft zu überraschend übereinstimmenden Ergebnissen gekommen. In diesem Abschnitt gebe ich zwei Beispiele dafür: darüber, wie man mit seinen Mitmenschen umgehen soll, und darüber, wie und was ein Mensch reden soll.
Die goldene Regel
Vielleicht beginnt das gute Leben in fast allen Kulturen der Welt mit dem einfachen Prinzip, das man im Christentum die »goldene Regel« nennt. In der für uns griffigsten Form kennen wir sie als deutsches Sprichwort: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu«. In der Bibel heißt es dazu ebenfalls ganz einfach: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (3. Buch Mose 19, 18), und Jesus kommt später darauf zurück: »Alles nun, was ihr wollt, das die Leute euch tun sollen, das tut auch ihr ihnen ebenso« (Matthäusevangelium 7, 12).
In der Sammlung der überlieferten Taten und Aussprüche des Propheten Mohammed (Hadithe) findet sich ein ähnlicher Gedanke: »Keiner von euch ist gläubig, bis er für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht« (Hadith 13 aus Vierzig Hadithe von An-Nawawi). Und in China lehrte Konfuzius (vermutlich 551–479 v. Chr.) einen ähnlichen Gedanken: »Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an. So wird es in dem Land keinen Groll (gegen dich) geben, so wird es im Hause keinen Groll (gegen dich) geben.« (Gespräche 12, 2)
Im Jahre 1785 machte der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) diese Weisheitsregel zu einem von der Vernunft gebotenen »Gesetz«. Die goldene Regel wurde jetzt zum »kategorischen Imperativ« und lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
Welcher Religion oder Philosophie auch immer ein Mensch anhängt – sie alle scheinen der Meinung zu sein, dass sich das menschliche Zusammenleben im Prinzip doch relativ einfach regeln ließe. Aber dass es dann im wirklichen Leben so einfach selten geht, wissen wir alle.
Reden, wie es Gott gefällt
Eine jüdische Geschichte erzählt, wie einmal ein Sabbatgast an Rabbi Baruchs Tisch saß und irgendwann sagte: »Lasst uns Worte der Lehre hören, Rabbi, ihr redet so schön!« Darauf antwortete der Rabbi: »Ehe, dass ich schön rede, möge ich stumm werden!« In dieser Anekdote geht es um mehr als »gutes« oder »böses« Reden. Es geht eher darum, was und warum ein Mensch überhaupt redet. Nur »schön reden« ist dem Rabbi zu wenig. Vielleicht will der Rabbi Menschen betroffen machen oder fröhlich, vielleicht ihren Glauben stärken oder sie ermahnen. Bloß eines will er nicht – schön reden. Er will nicht, dass die Leute von seinen Fähigkeiten als Redner so beeindruckt sind, dass der Sinn seiner Worte an die zweite Stelle rückt.
Wie in dieser jüdischen Geschichte beschäftigen sich viele Religionen mit dem Thema »Reden und Weisheit«. Und auch zum Thema »Reden und Schweigen« kann man feststellen, dass das, was Menschen (und Götter) als vernünftig und weise ansehen, sie um den Globus herum nur wenig voneinander unterscheidet. So ist in der buddhistischen Lehre vom »Achtfachen Pfad« die »rechte Rede«, der dritte dieser acht Pfade zur Erlösung (das Nirwana). Wer das Nirwana erreichen will, sollte nicht nur nicht lügen. Er sollte auch kein Schwätzer sein und seine Mitmenschen nicht beleidigen. Er sollte also nützlich, gut und weise reden können.
Der Islam kennt solche Gebote ebenfalls: »Wer immer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll sagen, was gut ist oder schweigen« (Mohammed). Oder auch sehr interessant: »Es genügt als Lüge für jemanden, alles zu wiederholen, was er hört.« Auch Juden und Christen widmen sich dem Reden und Schweigen ausführlich. Das Alte Testament enthält mehrere Bücher an Weisheitsliteratur, in denen es auch immer wieder um das vernünftige Reden und Schweigen geht: »Wer antwortet, bevor er gehört hat, dem ist es Torheit und Schande« (Buch der Sprüche, Kapitel 18, 13). Und geradezu verblüffend weise liest man ein Kapitel früher: »Selbst ein Narr wird für weise gehalten, wenn er schweigt …«
Im Neuen Testament gibt es solche Weisheitssprüche weniger, aber der Ernst, mit dem auch die frühen Christen über das Reden sprachen, ist nicht zu überlesen. So gibt es zum Beispiel im Jakobusbrief einen längeren Abschnitt über das Reden. Hier nur ein Satz daraus: »So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich doch großer Dinge. Siehe, ein kleines Feuer – welch großen Wald zündet es an.« (Jakobusbrief Kapitel 3, 5)
Religion und verbindliche Lebensregeln
Auch wenn viele Weisheiten der Religionen gut und nützlich sind, darf man nicht vergessen, dass sie für einen Gläubigen mehr sind als nur kluge Lebensregeln. Denn diese Regeln sind den Gläubigen welcher Religion auch immer ja gegeben, um Sünde zu verhindern oder um ein Leben führen zu können, das Gott oder den Göttern gefällt. Oft ist die richtige Lebensweise auch entscheidend dafür, wie ein Leben nach dem Tod oder eine Wiedergeburt ausfallen wird. Für den Gläubigen bedeuten all diese Weisheiten also mehr, als nur gut durch den nächsten Tag zu kommen. Ein Christ oder ein Muslim kann sich nicht einfach aussuchen, ob es ihm in bestimmten Fällen weiser scheint zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Lügt er, beleidigt er Gott. Verletzt er Menschen durch sein Reden, beleidigt er auch Gott. Wann immer also ein vielleicht nicht besonders spiritueller Mensch Weisheiten spirituellen Ursprungs für sich in Anspruch nimmt, sollte er ab und an auch an die Menschen denken, für die diese Weisheiten verbindliche Lebensgesetze sind. Sie verdienen auch den Respekt der »Ungläubigen«.
Bei diesem kurzen Gang durch die Religionen und ihre Weisheit wird also deutlich, dass sich die Inhalte des Glaubens vielleicht stark unterscheiden, die Inhalte des praktischen Lebens aber viel weniger. Unter welchen religiösen Vorzeichen auch immer ein gutes Leben gelebt werden soll, unterscheidet sich dieses gute Leben in der Praxis oft wenig voneinander. Dass es so etwas wie »Weisheit« gibt, darüber sind sich also Menschen aller Zeiten aus vielen Kulturen einig. Dass es Weisheit, viele Weisheiten und auch weise Menschen gibt, scheint ebenfalls klar. Deshalb muss