Zwischen uns Menschen, in der Partnerschaft, Familie, Gesellschaft, in der Schule oder am Arbeitsplatz – ist alles komplexes System. Sie werden in diesem Buch viel darüber lesen, wie Weisheit dazu hilft, den Weg durch diese komplexe Welt zu finden.
Wichtig ist zu lernen, das Komplizierte und das Komplexe auseinanderzuhalten und erkennen zu lernen. Etwas mag komplex aussehen, ist aber nur kompliziert. Was bedeutet: lernbar. Andere Dinge scheinen kompliziert, sind aber in Wirklichkeit komplex. Was bedeutet: Wir können den Umgang mit ihnen zu einem gewissen Grad lernen, wissen aber nie, welcher Einfluss Wirkungen erzeugt, die uns überraschen, uns nützen oder sogar schaden können. Ein komplexes System wie die Familie oder den Arbeitsplatz müssen wir mit viel Gefühl, Wissen und Erfahrung behandeln – kurz: mit Weisheit.
Wie weise Menschen sind
Vielleicht fragen Sie sich mittlerweile, was denn nun einen weisen Menschen wirklich ausmacht. Darüber schreibe ich besonders in Teil III. Was ich Ihnen schon jetzt sagen kann ist, dass weise Menschen auch sehr widersprüchlich sein können. Durch die Jahrtausende, in denen Menschen verschiedener Kulturen sich Gedanken über Weisheit gemacht haben, ist man sich anscheinend aber über ein paar Dinge klar geworden.
Weise ist der, der nichts weiß
Meine Güte, dann könnten Sie sich ja das Lesen dieses Buches auch sparen! Nun ja, sagen wir, dass ein weiser Mensch schon auch viel weiß. Aber er ist sich der Grenzen und der Lücken seines Wissens immer bewusst. Das muss seltsamerweise aber nicht bedeuten, dass er vor einer Entscheidung nun wie ein Besessener weiter Informationen sammeln muss, um sich besser entscheiden zu können. Ein weiser Mensch weiß auch, wann weitere Informationen zu sammeln sinnlos ist. Er kann sich entscheiden zu entscheiden.
Es ist wohl im Laufe dieses Kapitels klar geworden, dass »weise sein« nicht bedeutet, dass man alles im Griff hat. Es bedeutet, auf dem Wege zu sein und zu lernen und Nichtwissen als einen wesentlichen Teil der Weisheit zu begreifen. Wie gesagt: Ein weiser Mensch sollte den Mut haben, so lange dumm auszusehen, bis er schlau ist.
Weise ist der, der zuhört
Das Wissen um die Beschränktheit des eigenen Wissens verhindert auch, dass ein weiser Mensch leichtfertige Antworten und Ratschläge gibt. Gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen (also sozusagen den komplexen Systemen, die aus Menschen bestehen) ist das Zuhörenkönnen von großer Bedeutung. Seit der Erfindung der E-Mail ist die Welt eine Welt der schnellen Antworten geworden, vor allem eine Welt der schnell erwarteten Antworten. Dabei sind wir mittlerweile über die E-Mail schon weit hinaus und in Zeiten von WhatsApp ist sie schon wieder langsam.
Ein weiser Mensch wird auch seine Umwelt langsamer machen müssen. Die Ergebnisse werden ihm recht geben. Denn eine Welt voll komplexer Systeme kann man nicht mit Twitter-Nachrichten in den Griff bekommen. Kapitel 10 handelt von dieser Verlangsamung.
Weise ist der, der sich selbst nicht so wichtig nimmt
Das Wissen um die Begrenztheit des eigenen Wissens und um die eigenen Fehler und Schwächen begleiten den weisen Menschen. Er weiß, wie schwer es ist, allein nur in seinem Alltag den Durchblick zu behalten. In Kapitel 14 wird es um eine Eigenschaft des weisen Menschen gehen, die fast ähnlich vergessen ist wie die Weisheit: die Demut.
Weise ist der, der auch die schweren letzten Fragen für sich geregelt hat
Über manche Fragen des Lebens denken Menschen nur ungern nach. Lange suchen muss man nach solchen Themen nicht: Zum Beispiel muss jeder Mensch irgendwie damit klarkommen, dass er sterblich ist. In Kapitel 15 schreibe ich ausführlicher darüber. Andere schwierige Themen sind vielleicht:
Freiheit: Sind wir eigentlich immer begeistert von der Freiheit, das zu tun, was wir möchten? Oft genug verunsichert und deprimiert uns diese Freiheit und vor allem hassen wir den Zwang zur Entscheidung, der damit einhergeht. Wie also nutzt ein weiser Mensch seine Freiheit? Wie wird er mit der Verantwortung für seine Entscheidungen fertig?
Einsamkeit und Gemeinschaft: In dieses Leben sind wir ganz allein gekommen, ebenso allein werden wir wieder gehen. Dazwischen möchte der Mensch nicht gern allein sein und versucht, Teil einer Gemeinschaft zu werden. Weise Menschen haben ihren Platz in der Gemeinschaft gefunden und sind sich doch auch dessen bewusst, dass es immer wieder Zeiten geben wird, in denen sie einsam und allein stehen.
Der Sinn des Lebens: Gibt es eigentlich einen Sinn des Lebens? Wer religiös ist, der findet wahrscheinlich in seinem Glauben den Sinn des Lebens. Für alle anderen Menschen gilt eher, dass sie das Pech haben, als sinnsuchende Wesen in einem sinnlosen Universum leben zu müssen. Auch mit dieser Suche nach dem Sinn oder Nichtsinn des Lebens muss ein weiser Mensch klarkommen.
Dieses Buch ist keine Anleitung zum Glücklichwerden. Weisheit zu lernen verschafft nicht unbedingt auch Lebensglück. Weisheit kann auch das Scheitern begleiten und sie kann Ihnen helfen, mit Unglück, Leid und Tod umzugehen. Viel mehr als den Weg zum Glück müssen Sie Weisheit als Vorbereitung auf das Glück sehen, das Ihnen vielleicht über den Weg laufen wird. Sollte das Glück Ihnen begegnen, sollten Sie bereit dafür sein, es zu erkennen und zu ergreifen. Und der beste Weg, das Glück zu erkennen, wenn es Ihnen denn begegnet, ist Weisheit zu lernen.
Kapitel 2
Weisheit verstehen: Von den antiken Mythen bis zur heutigen Forschung
IN DIESEM KAPITEL
4500 Jahre Weisheit
Was weise scheint: Ptahhotep schreibt
Weisheit und Religion
Heute: Weisheit wird erforscht
Religion und Spiritualität werden in diesem Buch nur eine kleine Rolle spielen: Weisheit im Sinne von praktischer Lebensklugheit kann, muss nicht zwangsläufig mit spirituellen oder religiösen Übungen verbunden werden. Die Frage nach der Weisheit und nach dem guten Leben zieht sich durch die Menschheitsgeschichte, seit man begonnen hat, Gedanken aufzuschreiben. Alte Mythen und Sagen werden von weisen und törichten Menschen bevölkert. Viele Religionen haben sich Gedanken zum Thema Weisheit gemacht und die Bandbreite dessen, was sie zur Weisheit sagen, ist groß: von Empfehlungen zum weisen Handeln bis zur eher entmutigenden Aussage, dass es für einen Menschen gar nicht möglich ist, weise zu werden. Wie Sie sehen werden, ist das Verhältnis von Weisheit und Religion nicht immer unproblematisch. Besonders für eher »ungläubige« Menschen.
Dieses Kapitel schlägt einen großen Bogen von der Weisheitsliteratur der alten Ägypter über griechische Mythen und die Weltreligionen bis hin zu einem heutigen Forschungsprojekt an der Universität in Klagenfurt.
Alte Weisheit: Von Lehrern, Mythen und Märchen