IN DIESEM KAPITEL
Was Weisheit eigentlich ist
Woher Weisheit kommt
Was Dummheit ist
Wie man weise werden kann
Weisheit als Wegweiser durch unsere komplexe Welt
Im Alltag mit dem Wort »Weisheit« umzugehen kann eine interessante Spannung erzeugen. Wirklich vergessen ist das Wort Weisheit natürlich nicht, aber immer weniger Menschen wissen es zu erklären und mit Inhalt zu füllen. Es gibt zwar einige wenige neuere Buchtitel zum Thema Weisheit, viel eher aber finden wir Bücher mit »Weisheiten«: Weisheiten aus der Wüste, afrikanische Weisheiten, Weisheit des Orients und so weiter. In diesen Büchern finden wir meistens Sprichwörter, Anekdoten oder Zitate, die uns etwas lehren oder zum Nachdenken bringen sollen. Und das tun sie sicher auch. Nur: Weisheiten helfen uns eigentlich nur, wenn wir uns im richtigen Moment auch an sie erinnern. Aber was hat es mit der Weisheit an sich auf sich? Was ist das für eine Fähigkeit – »weise sein«? Wann tritt Weisheit in Aktion?
In diesem Kapitel gebe ich Ihnen einen kleinen Überblick über das Thema Weisheit. Hier startet also die nicht ganz einfache Reise zur Weisheit.
Auch Weisheiten aus aller Welt machen weise
Auf dem Weg zur Weisheit sollte man die vielen Weisheiten der Welt allerdings nicht unterschätzen. Sie zeigen uns, dass es durch viele Kulturen und Jahrhunderte erstaunliche Übereinstimmungen darüber gibt, was Menschen für weise halten und was nicht. Ob in Babylon, Israel, China, Afrika oder Europa – wenn wir Mythen, Märchen und Sprichwörter aus all diesen Ländern lesen, sehen wir zwar Unterschiede, aber auch Dinge, die allen klar sind. Ohne in die Einzelheiten zu gehen, kann man zum Beispiel sagen, dass das Zuhören in einem Großteil der Welt als weiser beurteilt wird als das Reden. Gegen etwas Nachdenken vor dem Handeln hat auf dieser Welt auch niemand etwas. Weise ist, wer sich selbst kennt – und das von Peking bis Athen. Gelassenheit ist besser als Jähzorn – auch darin verstehen sich antike Griechen und heutige Muslime. Und dass wenig Besitz oft doch glücklicher macht als viel, hat sich auch in weiten Teilen der Welt herumgesprochen. Ich will hier nicht leichtfertig von »der ganzen Welt« sprechen, denn natürlich kenne ich nicht das Denken aller Menschen überall. Aber wir können die meisten afrikanischen, asiatischen, europäischen oder amerikanischen »Weisheiten« deshalb verstehen und für uns annehmen, weil sich in diesen Sprichwörtern und Geschichten das absolut Wesentliche zeigt, das für jeden Menschen wichtig ist. Egal wo er lebt und zu welcher Kultur er gehört. Das, was klug ist und zu einem guten Leben führt, und das, was dumm ist und nichts Gutes zur Folge hat, ist im Prinzip von Kontinent zu Kontinent nicht sehr verschieden.
Weisheit: Praktische Lebensklugheit in Höchstform
Man verbindet Weisheit irgendwie mit Lebenserfahrung. Damit ist sie vielleicht eine der wenigen positiven Eigenschaften, die man dem Alter noch zuschreibt, oft sieht man das Alter lediglich als schwach, stur, krank und im schlimmsten Falle dement. Weisheit scheint auch mit Klugheit zu tun zu haben. Vielleicht auch ein wenig damit, dass jemand über den Dingen steht? Und sicher enthält sie auch Menschenkenntnis. Aber – wie bringt man das jetzt alles auf den Punkt? Berliner Wissenschaftler unter der Leitung von Paul Baltes (1939–2006) haben erklärt, dass Weisheit »Expertenwissen über das Leben« ist. Mit dieser Erklärung kommt man schon recht weit.
Weise leben – leben mit Durchblick
Im Grunde heißt weise sein, dass man viel vom Leben versteht. Okay, das ist jetzt ein ziemlich hoher Anspruch. Aber bringen wir das mal in die richtige Perspektive: Das Leben verstehen bedeutet in diesem Falle nicht, für jedes Problem die eine Lösung zu wissen. Weise zu sein bedeutet zu wissen, dass das Leben nicht einfach ist. Und dass man als Einzelner nicht alles verstehen kann. Und dass es tatsächlich oft nicht nur die eine Lösung gibt, sondern dass viele (oder zumindest zwei oder drei) Wege zum Ziel führen.
Weisheit bedeutet sogar manchmal zu erkennen, dass die vielen Wege, die ein Mensch in seinem Leben einschlagen kann, nicht mal ein Ziel haben, sondern in sich das Ziel sind. Das mag für Sie jetzt vielleicht sehr schwammig klingen. Aber genau das ist der Punkt: Die Meinungen und Gedanken eines weisen Menschen bleiben tatsächlich oft lange schwammig – so lange, bis er sich eine Meinung bilden oder sich entscheiden kann. Ein weiser Mensch kann es aushalten und leistet es sich, immer so lange dumm auszusehen, bis er schlau ist. Und das eben auch, weil er anderen Menschen zuhört und sie für voll nimmt. Ein weiser Mensch muss in der Lage sein, jeden Standpunkt selbst einzunehmen, bevor ihn das Gehörte und Gelesene, seine Erfahrungen und sein Wissen zu einer eigenen Meinung bringen. Erst wenn er genug zugehört (und/oder gelesen und/oder Erfahrungen gemacht) hat, wird er sich eine Meinung bilden, anderen Menschen widersprechen oder einen Rat geben.
Ein weiser Mensch weiß aber auch, wann es keine Antworten gibt, die für alle gelten. Wie soll man mit der eigenen Sterblichkeit umgehen? Und wie mit der Freiheit in den Ländern des Westens, die uns mehr Möglichkeiten gibt, als wir je haben wollten? Ein weiser Mensch wird sich hüten, darauf allgemeingültige Antworten zu geben. Das Beste, was er tun kann, ist, Menschen bei der Beantwortung dieser Fragen zu helfen, wenn er danach gefragt wird.
Vielleicht entdecken Sie nun schon ein gewisses Muster in dieser Beschreibung weiser Menschen: Weise Menschen denken nicht starr in Ideologien oder religiösen Vorschriften. Weise Menschen haben immer das Leben im Blick und kommen aufgrund ihrer Erfahrung und trotz ihres oft lückenhaften Wissens zu guten Entscheidungen oder Meinungen. Man braucht eine gewisse Demut, um weise zu werden (siehe Kapitel 14), denn anscheinend ist niemand so weit vom Verstehen der Dinge entfernt wie der, der meint, alles zu wissen. Man kann die Welt bereisen, Doktortitel anhäufen und einen Berg von Fakten vor der Nase haben – und immer noch bedeutet das nicht, dass man besonders viel von dieser Welt versteht.
Kein »Experte« hatte sie vorausgesehen, niemand wollte schuld sein und die angeblichen »Finanzgurus«, denen die Menschen ihr Geld anvertraut hatten, zuckten nur verlegen mit den Schultern, als kein Geld mehr da war. Wenn nichts anderes, sollte uns die Finanzkrise seit 2007 zumindest das gelehrt haben: Wir wissen meist weniger, als wir meinen zu wissen. Und selbst das Wissen von Experten ist begrenzt.
Weisheit funktioniert nicht wie ein Reflex: Auch jemand, der weise ist, macht Fehler. Wichtig aber ist, sich zu seinen Urteilen und Entscheidungen nicht drängen zu lassen, seine Erfahrung und sein Wissen zu benutzen und vor allem zu sich selbst ehrlich zu sein. Viele Fehler wurden und werden gemacht, weil Menschen die Dinge so sehen wollen, wie sie es sich wünschen, und nicht so, wie sie wirklich sind.
Weisheit und Intelligenz müssen nicht zusammenhängen. Ebenso wenig wie Weisheit und Bildung. Intelligenz und Bildung können uns auf dem Weg zu größerer Weisheit helfen. Aber sicher ist das nicht. Wenn Bildung und Intelligenz nicht von einer gewissen Demut in Schach gehalten werden, schaffen sie Besserwisser, aber keine Weisen. Intelligenz und Bildung müssen von der Demut und von den Erfahrungen des täglichen Lebens in Zaum gehalten werden, sonst machen sie die Menschen schnell stolz und arrogant. In Teil II dieses Buches gehe ich näher darauf ein, wie all das, was wir lernen, wissen und erfahren, zu einem guten Leben helfen kann.
Vereinfacht gesagt ist der Weg zur Weisheit ein Dreischritt:
1 Am Anfang stehen die Erfahrung und das Lernen. Sie geben Ihnen Informationen über das Leben. Darüber, wie Menschen sind und wie sie handeln. Darüber, was Menschen in der Geschichte gedacht und geschrieben haben. Darüber, wie Sie selbst in gewissen Situationen reagieren und wie wiederum andere Menschen auf Sie reagieren.
2 Jeder