Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Müssig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783734321962
Скачать книгу
will. Aber wer kann es ihr schon verdenken? Schließlich sehen die barocken Kirchenkuppeln wie gewundene Schlagobersgupfe auf einem Windgebäck-Baiser aus, und zu Weihnachten riecht das ganze Zentrum nach heißem Rum und Gewürzen.

      Auch für jene, die das ganze Jahr hier leben, ist das »Papperl« (die Mahlzeit) ein wichtiges Lebenselixier. Schon in der Früh wird daran gedacht, was zu Mittag gegessen wird, und am Nachmittag stehen noch die Einkäufe für ein ordentliches Abendessen an. Zwischendurch liegen Verlockungen immer in Reichweite. Wiens Bäckereien haben in den vergangenen Jahren an vielen Standorten Filialen eröffnet. Bei U-Bahn- und Straßenbahnhaltestellen haben sie Verkaufsstände aufgemacht. Ein Punschkrapfen vom »Anker« und ein Rehrücken vom »Felber« lindern den Heißhunger zwischendurch – von den diversen Würstelständen ganz zu schweigen. Und in den Hunderten Restaurants der Stadt wird genau darauf geachtet, was in den Topf kommt. Nur das feinste Rindfleisch für den Tafelspitz und die beste Powidl-Marmelade für die Germknödel.

image

       »Schanigärten« nennen sich die Restaurantterrassen im Freien.

      Bewohner der Stadt begegnen Reisenden oft mit ausgesuchter Höflichkeit. Ist es noch ein Erbe der Kaiserzeit, dass Titel eine wichtige Rolle spielen? Der »Herr Ingenieur« hat gerade mal sein Abitur in einer technischen Fachrichtung gemacht, runzelt aber die Stirn, wenn man seine Anrede vergisst. Frauen, die am Standesamt promovierten, bestehen darauf, mit »Frau Doktor« angesprochen zu werden. Aber manchen Verkäufern und Verkäuferinnen kommt es gar nicht in den Sinn, eine Kundin überhaupt zu siezen. Nur die dritte Person ist erlaubt. Bei Nachbestellungen wird deshalb die Frage gestellt: »Darf es noch etwas sein, die Dame?«

      Die Wiener haben jedoch eine zärtliche Beziehung zu Objekten, die sich im Laufe des Stadtlebens verdient gemacht haben. Als die Straßenbahnlinie 65 in ein neues Streckennetz überführt und als Nummer 1 wiedergeboren wurde, sagten ihre Schaffner mit einer zentralen Durchsage Lebewohl: »Der Bahnhof Favoriten verabschiedet sich von der 65er-Linie. Viel Glück im neuen Leben!«

      Nur auf dem Fußballplatz lassen Wiener überschüssige Energie raus. Das Lokalderby Rapid gegen Austria erhitzt die Gemüter. Wer Schimpfwörter im Wiener Dialekt lernen will, sollte das Gerhard-Hanappi- oder das Ernst-Happel-Stadion besuchen. »Renn doch, du Ohrwaschelkaktus!« ist noch eine feine Ausdrucksweise. »Hau di üba d’Heiser, du Karachl« fällt schon etwas deftiger aus.

       Eine Stadt zum Leben

      Wien ist eine Wohlfühlstadt. Vermutlich auch, weil die Metropole schon seit Jahrzehnten »rot« ist. Die sozialdemokratische Stadtregierung hat darauf geachtet, dass die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel moderat, das Essen auf Rädern für Senioren mit Mindestpension erschwinglich und die Extrawoche im Spital zum Auskurieren einer Krankheit selbstverständlich bleiben. Und dass die Parks, Bäder, Theater und Konzerthallen in Schuss gehalten werden.

      In der satirischen Fernsehsendung »Wir sind Kaiser« kam 2010 H. C. Strache, damals Bundesvorsitzender der ultrarechten FPÖ, auf Besuch bei Majestät Robert Heinrich I. Er erklärte, wie er in Wien einiges ändern würde. Daraufhin schaute ihn »Kaiser Robert« nur mal lange an und fragte dann bei seinem Hofkanzler nach, an welcher Stelle Wien in Sachen Lebensqualität denn läge. Als man dem »Kaiser« die Pole-Position bestätigte, fragte er Strache nur ungläubig: »Und das will er ändern?«

       TOP image ERLEBNIS

      image MYTHOS WIENER SCHNITZEL

      Kalbfleisch, Semmelbrösel, Ei, Mehl, Butterschmalz, Salz – mehr braucht man nicht, um die Leibspeise der Wiener oder vielmehr das Nationalgericht Österreichs zuzubereiten. Über seinen Ursprung gibt es viele Theorien. Erstmals soll es 1831 in einem süddeutschen Kochbuch erwähnt worden sein. Andere Quellen berichten, dass Feldmarschall Radetzky das Rezept aus Italien mitgebracht hat. Immerhin ist man sich über die Art seiner Zubereitung weitgehend einig: Dünn aus der Kalbsnuss geschnittene Fleischscheiben werden mit Mehl, Ei und Semmelbröseln paniert und dann in heißem Fett herausgebacken. (Schweineschnitzel darf übrigens nicht als Wiener Schnitzel, sondern nur als »Schnitzel Wiener Art« oder »Wiener Schnitzel vom Schwein« bezeichnet werden.) Traditionell reicht man dazu Kopf-, Kartoffel- und/oder Gurkensalat, ein Petersiliensträußchen sowie Zitrone, um die Panade zu beträufeln. Wer sich ein Bild machen will, sollte eines der unten genannten Restaurants besuchen.

      WEITERE INFORMATIONEN Schnitzelwirt: Neubaugasse 52/7, 1070 Wien, www.schnitzelwirt.co.at

      Figlmüller: Wollzeile 5/ Bäckerstr. 6, 1010 Wien, www.figlmueller.at

image

       Ein Kellner serviert ein gigantisches Wiener Schnitzel im Restaurant Figlmüller.

image

       Bunt, verspielt und expressionistisch: Das Hundertwasserhaus in Wien ist ein Traum von Freiheit. Jenseits der Norm und geradlinigen Erscheinung schuf der Architekt ein Haus für »Menschen und Bäume«. Die 1985 angelegte Dachterrasse wuchs zu einem Park heran.

      TRAUMSTRASSEN

      image IMPERIALES NIEDERÖSTERREICH

       Most, Wein, Wald und Wasser

image

       Wer nach Erlebnissen fernab von großen Menschenansammlungen sucht, der sollte sich nach Niederösterreich begeben. Die sechs Regionen Donau, Wiener Alpen, Waldviertel, Weinviertel, Wienerwald und Mostviertel gehören zu den abwechslungsreichsten Erholungs- und Genussregionen in ganz Europa.

image

       Spektakuläre Akrobatik im Schloss Hof.

      Niederosterreich liegt im Herzen Europas und zog immer wieder Menschen und Mächte an, die zu einer bewegten Geschichte und einem reichen Kulturerbe beitrugen. Dank des Zusammentreffens von alpinen und pannonischen, nord- und südeuropäischen Klimazonen findet man in Niederosterreich auf dichtem Raum eine große Vielfalt von Landschaftstypen: Auwälder und Steppen, Almen und Seen, Schluchten und Hügellandschaften, Flusstäler und Moore. Das Land an der Donau ist ein landschaftlich reizvolles, kulturell sehenswertes und kulinarisches Urlaubsland von höchster Güte. Da ist zum Beispiel das Marchfelder Schlösserreich im östlichen Teil Niederösterreichs. In kaum einer anderen Gegend des Landes konzentriert sich so viel österreichische Geschichte. Diese drehte sich in vielen Jahrhunderten um die fünf prächtigen Marchfeldschlösser Schloss Hof, Niederweiden, Eckartsau, Marchegg und Orth.

image

       Schloss Eckartsau war der letzte Wohnsitz von Kaiser Karl I. in Österreich.

       Schloss Hof im Marchfeld

      Prinz Eugen von Savoyen erwarb das Schloss 1726 und ließ es vom berühmten Barockarchitekten Johann Lucas von Hildebrandt zu einem prachtvollen Anwesen umgestalten. Nachdem dieses Juwel lange Jahre brachlag, wurde