Bob Marley - Catch a Fire. Timothy White. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy White
Издательство: Bookwire
Серия: Rockgeschichte
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454656
Скачать книгу
nochmals an, und dann legte er Don Drummonds ›Jet Stream‹ oder das gewagte ›Jerk in Time‹ von den Wailers auf. Es dauerte nicht lange, da wollte jeder ›rude boy‹ (Halbstarker aus den Ghettos) und Waisenknabe vom Lande seine eigene Stimme aus einer Bassbox dröhnen hören.

      Die erste Single der Wailers, ›Simmer Down‹ (Bob hatte mit einer früher aufgenommenen Solofassung einen Talentwettbewerb im Ward Theatre gewonnen), war Ende 1963 bis Anfang 1964 ein Ska-Superhit auf Jamaika; der Text rief die jungen Rowdys dazu auf, ihr Temperament zu zügeln und mitzuhelfen, die Bandenkriege und die wilde Gesetzlosigkeit einzudämmen, die epidemische Ausmaße angenommen hatten. Unglücklicherweise verliehen diese Platte und nachfolgende Veröffentlichungen wie ›Rude Boy‹ und ›Jail House‹ den Straßenlümmeln einen eher perversen Ruhm.

      Die Ska-Blue-Beat-Weiterentwicklung, die bekannt werden sollte als ›Rock Steady‹, fand ungefähr 1966 statt, als die allgegenwärtigen Posaunen, Trompeten und Tenorsaxophone in den Hintergrund traten, der elektrische Bass die Vorrangstellung gewann, die Gitarre sich darauf verlegte, die nach Schluckauf klingenden Kadenzen zu akzentuieren, und immer häufiger Sologesang präsentiert wurde. Der archetypische Song dieser Ära war der Tanzhit ›Rock Steady‹ von Alton Ellis. Allgemein war jedoch der wesentliche Aspekt an der Weiterentwicklung des Ska zum Rock Steady das Auftauchen einer neuen Generation talentierter jamaikanischer Musiker.

      »Die Typen, die alles unter Kontrolle hatten, raubten die älteren Musiker aus«, sagte Bob Marley in einem Interview 1975. »Die hatten’s satt und hörten zu spielen auf. Und da änderte sich die Musik, von den älteren Musikern zu den jüngeren. Leute wie ich, wir lieben James Brown und eure funky Sachen, also haben wir in die amerikanische Kiste gegriffen. Wir wollten nicht mehr rumstehen und nur den langsamen Ska-Beat spielen. De young musicians, deh had a different beat – dis was rock steady now! Eager to go! Du-du-du-du-du … Rock steady goin’ t’rough!«

      Marley traf den Nagel auf den Kopf, als er James Brown mit dem musikalischen Wandel in Verbindung brachte, denn der R&B war für den Ska, was Soul für Steady bedeutete. Und als Jimi Hendrix und Sly Stone auftauchten und dem Soul eine Adrenalinspritze verpassten, waren die Wailers angetreten, dasselbe für den Rock Steady zu leisten, ihn auszustatten mit einer ungezügelten Entschlossenheit und Kraft, die ihn schließlich zum Reggae machte.

      In den siebziger Jahren waren in den Top 40 der USA mehrere Rock-Steady- und frühe Reggae-Hits zu Gast – besonders auffallend die anti-kolonialistische Kampfansage ›Israelites‹ von Desmond Dekker and the Aces (1969) und Jimmy Cliffs lebensfrohes ›Wonderful World, Beautiful People‹ (1970) –, ohne dass die Plattenkäufer auch nur ahnten, wofür diese Songs standen. Aber amerikanische und britische Musiker, die sich angefreundet hatten mit dem thematischen und rhythmischen Selbstbewusstsein der Reggae-Musik in den frühen siebziger Jahren, hörten hinter dem unvergesslichen Sound auch die Kassen klingeln und begannen, mit ihren eigenen Reggae-Interpretationen Erfolge einzuheimsen. Paul Simons Ausflug 1971 in die Dynamic Studios von Byron Lee in Kingston, um ›Mother and Child Reunion‹ aufzunehmen, hatte seinen Anteil an einer lebendigen und lukrativen musikalischen Einflussnahme auf andere prominenten Exponenten des Rock, R&B, Punk, der Disco-Musik, des Funk und der New Wave, darunter Stevie Wonder, Paul McCartney, Elvis Costello, Boney M, 10cc, die Rolling Stones, Orleans, Linda Ronstadt, ABBA, die Staple Singers und The Clash, um nur einige zu nennen. 1974 erreichte Eric Clapton in den USA und in vielen Ländern Europas Platz eins mit seiner Version von Marleys Shantytown-Geständnis ›I Shot the Sheriff‹. 1979–1980 dann wurde ein eklektizistischer neuer Sound von rassengemischten englischen Gruppen wie den Specials, Madness und English Beat geschaffen, die ein Ska-Revival mit der possenhaften Energie des Punks verbanden.

      Die hypnotisierenden und oft aufwieglerischen Songs von Bob Marley and the Wailers waren gemeinhin voller Metaphern für den Überlebenskampf der Dritten Welt und zudem durchsetzt von den verschwommenen Lehrmeinungen des Rasta-Glaubens sowie von Symbolen und Maximen, die der jamaikanischen und afrikanischen Folklore entstammten. Die Wailers bewiesen bald, dass sie weit mehr als ein Rock-Phänomen waren, und ihre Musik beschäftigte sich zunehmend mit gesellschaftlichen Problemen auf der Insel, sei es nun die ätzende Anklage polizeilicher Übergriffe gegen Rastas in ›Rebel Music (3 O’Clock Road Block)‹ oder ›Them Belly Full (But We Hungry)‹, in dem das demokratisch-sozialistische Regime des Premierministers Michael Manley darauf hingewiesen wurde, dass die Ghettobevölkerung, der die Bürgerrechte entzogen waren, eine unberechenbare und starke politische Kraft sei.

      Aber auf Jamaika rechnete niemand mit der Wirkung, die die Musik von Marley und Begleitern einmal auf der ganzen Welt haben sollte. Während der meisten Entwicklungsphasen des Jamaika-Rock waren die Wailers in der Karibik kommerziell recht erfolgreich gewesen. Aber nachdem sie 1972 ihren Vertrag bei Island Records unterschrieben hatten, brachten die Wailers als Gruppe auf dem international vertriebenen Island-Label elf erfolgreiche Alben heraus (sowohl Peter Tosh als auch Bunny Wailer, die die Gruppe 1975 verließen, haben noch zahlreiche Soloalben veröffentlicht). Dargebracht wie inbrünstige Beschwörungsformeln im Patois, wurden die Songs der Wailers zu einer weltweiten Sensation, und Marley wurde als ein Mann von herausragendem musikalischem und gesellschaftspolitischem Einfluss gepriesen. Von 1976 an waren Konzerte der Wailers immer ausverkauft. Und sie traten in allen Teilen der Welt auf: in den USA, Kanada und Frankreich, in Großbritannien, Italien (wo sie 1980 bei einem einzigen Konzert 100.000 Besucher zählen konnten), in Westdeutschland, Spanien, Skandinavien, Irland, Belgien, der Schweiz, Japan, Australien und Neuseeland, an der Elfenbeinküste und in Gabun. Bis heute sind Alben der Wailers für 240 Millionen Dollar verkauft worden, wobei beträchtliche Verkäufe auch in Ländern erzielt wurden, in denen die Gruppe nie aufgetreten ist: Brasilien, Senegal, Ghana, Nigeria, Taiwan und den Philippinen. Marley selbst wurde zu einem Idol geradezu fantastischen Ausmaßes, und auf seinen Reisen durch Südamerika, Afrika, die USA, Europa und natürlich die Karibik wurde er immer wieder von Menschenmassen umdrängt.

      Wenn man sich vergegenwärtigt, wie groß seine Befähigung gewesen ist, die Menschen mit seinen extrem engagierten Songs über die Erhebung und gesellschaftliche Revolution in der Dritten Welt in seinen Bann zu schlagen, erscheint es wie eine Ironie, dass Marleys politische Bindungen niemals klar zu identifizieren gewesen sind. Das aber war wohl der am wenigsten verblüffende Aspekt an einem Mann, der den Eindruck erweckte, als bemühe er sich absichtlich, seine schon so wenig greifbare Persönlichkeit noch undurchschaubarer zu machen. An Bob Marley bleibt so vieles rätselhaft. In ihm schienen sich die magischen Eigenschaften von ›Anancy‹ zu verkörpern, jener koboldhaften Spinne aus der afrikanischen Folklore, die über die Fähigkeit verfügt, ihre körperliche Erscheinungsform willkürlich zu verändern, und zudem listig genug ist, um manchmal sogar das höchste Wesen zu täuschen. (Die Anancy-Geschichten wurden im 17. Jahrhundert von Sklaven, Angehörigen der Akan von der Goldküste [jetzt Ghana] nach Jamaika gebracht und in den Twi-Dialekten erzählt und überliefert [Ashanti, Fanti und Akwapim], die die wichtigste Grundlage des jamaikanischen Patois bilden.) Marley wurde für sein Volk zu einer symbolischen, überlebensgroßen Figur, so wie Anancy in der Vorstellung der Sklaven zu einem Symbol des Mutes wurde, das von der Idee getragen ist, eine mutmaßlich niedrige Kreatur sei durchaus in der Lage, ihre mächtigen Widersacher zu überlisten.

      Wenn man in Anwesenheit seiner Unterdrücker Anancy-Geschichten auf Patois erzählte, konnte man seine Selbstachtung steigern, da man ja die Sklavenhalter, die dieser Sprache nicht mächtig waren, verspottete. Zudem dienten diese Fabeln als ständige Auffrischung des reichen kulturellen Erbes, von dem die Sklaven so brutal abgeschnitten worden waren. In der jamaikanischen Kultur genießt die Kunst des Geschichtenerzählens ein hohes Ansehen, und der geübte Erzähler versteht es, auf geschickte Weise jedwede Unterschiede zwischen überlieferten Geschichten und seinen persönlichen Erlebnissen zu verwischen. Die besten Geschichten sind Arabesken aus übernatürlicher Bedrohung und verdrehtem Humor.

      In einem Land, wo so viele Menschen so wenig besitzen, ist die persönliche Mystifikation ein hochgeschätztes gesellschaftliches Kapitel – mit dem man sich den bleibenden Respekt der anderen erkaufen kann. Eine wohlvertraute Figur, über die sich nur höchst wenig in Erfahrung bringen lässt, gewinnt so machtvolle Präsenz.

      Bob Marley war so ein Mann. Besessen von seiner Privatsphäre, wendete er beträchtlich Zeit und Mühe auf, um im Laufe seines