Bob Marley - Catch a Fire. Timothy White. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy White
Издательство: Bookwire
Серия: Rockgeschichte
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454656
Скачать книгу
darüber hinaus eine Bedeutung hat, ist es auch egal!«

      Jahrzehntelang, seit den zwanziger Jahren, war die beherrschende Musik in der Karibik der Calypso aus Trinidad. Musiker von der Insel sangen die fröhlichen, an aktuellen Themen orientierten und häufig anzüglichen Folksongs ursprünglich im afrikanisch-französischen Patois, aber wechselten dann langsam in die englische Sprache, als die Musik das Interesse amerikanischer Plattenlabel wie Decca und Bluebird zu wecken begann. Auf Trinidad waren die größten Calypso-Musiker, die sich jedes Jahr bei den Karnevalsfestlichkeiten in der Vorfastenzeit um den Titel des Calypso-Königs stritten, hauptsächlich Männer; King Radio, Growling Tiger, Lord Beginner, William the Conqueror, Attila the Hun, Lord Executor. Als die Musik von den Amerikanern entdeckt und als Neuhit kommerziell ausgebeutet wurde, fanden sich Caylpso-Musiker wie Attila (Raymond Quevedo) und Lord Executor (Phillip Garcia) plötzlich neben solchen Stars wie Bing Crosby und Rudy Vallee in Live-Radiosendungen aus den Staaten. Auf einer Truppenbetreuungs-Tour durch die Karibik während des Zweiten Weltkriegs hörte der Komiker Morey Amsterdam einen satirischen Song über die Kulturspuren der amerikanischen Soldaten auf Trinidad von Lord Invader (›Rum and Coca-Cola‹) und machte die Andrews Sisters damit bekannt.

      In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden verschieden Musikformen der Karibik, besonders die ›Steel-Pan-Musik‹ von Trinidad und Tobago, die entwickelt wurde von Ellie Mannette (dem ersten Mann, der den Deckel eines Ölfasses ›senkte‹ und ihn dann in bestimmten gewölbten Sektionen stimmte), Winston ›Spree‹ Simon und Neville Jules. Mit Steel-Pan wurden schließlich die hektischeren und kommerziellen Calypso-Stilrichtungen begleitet, die solche Künstler wie Aldwyn ›Lord‹ Kitchener Roberts und Slinger ›the Mighty Sparrow‹ Francisco populär machten. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren begannen jamaikanische Musiker, die Steel-Pan und Calypso-Richtungen mit einem einheimischen Mento-Folk-Beat (Harry Belafontes: ›Jamaica Farewell‹ war ursprünglich ein Mento-Song) zu kombinieren, und legten damit den Grundstock für eine aggressive Verschmelzung, in der auch südamerikanische Elemente und eine perkussive Richtung nicht unähnlich der Tanzmusik Nigerias enthalten waren.

      Zu ungefähr derselben Zeit (1950–1959) wandten sich die jamaikanischen Jugendlichen ab von der amerikanischen Popmusik, die ihnen von Radio Jamaica Rediffusion (RJR) und der Jamaica Broadcasting Corporation (JBC) vorgedudelt wurde. Wenn die Wetterbedingungen es zuließen, hörten sie stattdessen die saft- und kraftvollere Musik, die von den Radiostationen in New Orleans oder von WINZ in Miami gespielt wurde, auf deren Programmlisten Platten von Amos Milburn, Roscoe Gordon und Louis Jordan standen. Sie konnten sich viel leichter mit dem Sound von Milburn, der sich über ›Bad, Bad Whiskey‹ beklagte, oder Fats Domino, der den ›Walking Blues‹ sang, identifizieren als mit Mitch Millers ›Tzena, Tzena, Tzena‹. So sehr die Jamaikaner den amerikanischen Blues mochten, brachen sie doch in Begeisterung aus, wenn Fats Domino, Smiley Lewis, Huey Smith and the Clowns, Lloyd Price oder andere Musiker aus New Orleans den Sound einen Schritt weiterbrachten und eine gehörige Portion der einzigartig rockenden Rhythmen der Crescent City beigaben. Es handelte sich um eine Annäherung an den R&B, in der das Tempo die aus New Orleans stammenden Klagelieder und die Freudenmärsche der Jazz-Beerdigungen vereinte, die lateinamerikanisch gefärbten Bass-Muster von Bordellpianisten wie Jelly Roll Morton, Rumba, Samba und Mambo von Perez Prado; den Kneipen-Boogie-Woogie von Kid Stormy Weather, Sullivan Rock, Robert Bertrand, Archibald, Champion Jack Dupree und Professor Longhair, die Freudenausbrüche der traditionellen schwarzen Mardi-Gras-Gesellschaften (bekannt als ›indianische‹ Stämme), die zum Mitsingen verlockten.

      Jamaikanische Bands fingen damit an, R&B-Hits aus den USA nachzuspielen, und die wagemutigeren von ihnen nahmen das Grundgerüst des Sounds und verschmolzen es mit energiegeladenen Jazz-Ideen – besonders in der allgegenwärtigen Bläsersektion –

      und kamen ungefähr 1956 mit einem Stilgemisch heraus, das ›Ska‹ getauft wurde. Ernest Ranglin, der herausragende, im Jazz verwurzelte jamaikanische Gitarrist, der die Wailers bei solchen Ska-Klassikern wie ›Love and Affection‹ und ›Cry to Me‹ begleitet hatte, sagte, das Wort sei von Musikern geprägt worden, »um jenen skat!skat!skat!-Schrammelton auf der Gitarre zu beschreiben, der im Hintergrund zu hören ist«.

      Praktisch über Nacht schuf der Ska eine bedeutende jamaikanische Industrie, die man Sound System nannte. Unternehmensfreudige Besitzer von Plattengeschäften und Diskjockeys mit verlässlichen Verbindungen zu den USA, durch die sie sich 45er Singles beschafften, luden ein Paar schwere PA-Boxen auf einen kleinen Lieferwagen und fuhren über die Insel. Sie spielten die letzten Hits des Fat Man und von Joe Jones oder Songs von einheimischen Lieblingen wie Kentrick ›Lord Creator‹ Patrick und Stranger Cole. Um zusätzlichen Eindruck zu machen, gaben sich die herumreisenden DJs Pseudonyme, die an die frühen Calypso-Musiker erinnerten: King Edwards, V-Rocket, Sir Coxone Downbeat, Prince Buster. Sie pflegten bei Tanzveranstaltungen unter freiem Himmel in Goldlaméwesten aufzutauchen, in Darcual-Umhängen aus schwarzem Leder, in imitierten Hermelinroben, mit Lone-Ranger-Masken und Kronen, die mit künstlichen Steinen besetzt waren. In der einen Hand schwenkten sie einen Stapel der exklusivsten Singles der Insel, in der anderen eine verzierte Pistole oder eine Machete. Der Konkurrenzkampf unter den DJs um die neuesten US- oder Jamaika-Singles wurde so hart geführt, dass sie die Labels der 45er mit schwarzem Papier beklebten oder ganz abkratzten. Natürlich war es viel schwerer, mit den Rivalen Schritt zu halten, wenn man nicht den Namen der Platte oder des Künstlers kannte, die gerade die größte Begeisterung erweckten. Frustrierte Gegner versuchten häufig, ihre Meinungsverschiedenheiten in abgelegenen Gassen oder auf einem einsamen Buschgelände mit Pistolen oder ›ratchets‹ (rasiermesserscharfen deutschen Klappmessern) auszutragen.

      In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren erreichte die Ska-Manie auch England, wo eine sich immer mehr vergrößernde Bevölkerung aus Westindien und neugierige Briten in Massen die ›shebeens‹ (heruntergekommene Kellerclubs ohne Lizenz) und Tanzveranstaltungen der Sound-System-Leute besuchten, um Long Life Lager zu trinken, Ganja zu rauchen und sich in dem Tumult zu vergnügen, den Platten von der Insel und gastierende Musiker hervorriefen. In Großbritannien wurde der Ska nach dem Blue-Beat-Label der Firma Melodisc Records bald ›Bluebeat‹ genannt. Auf diesem Label erschienen Songs von jamaikanischen Gruppen wie Laurel Aitken and the Carib Beats, Basil Gabbidon’s Mellow Larks und Desmond Dekker and the Acs. Vom jamaikanischen Publikum ermutigt, nahm der englische Organist Georgie Fame ausgewählte Titel von den letzten Blue-Beat-Veröffentlichungen in das Repertoire auf, das er in Londons Flamingo Club spielte. Später nahm Fame mehrere auf dem Ska basierende Singles für das R&B-Disc-Label auf; die besten davon waren ›Orange Street‹ und ›JA Blues‹. Und zur gleichen Zeit fanden die jamaikanischen Musiker in London Gefallen an dem Funky-Jazz des Organisten Jimmy Smith und des Saxophonisten Lou Donaldson und nahmen diese Musik mit nach Hause zurück.

      Aber all das wäre wohl kaum mehr als eine Kuriosität geblieben, hätte es nicht die Bemühungen eines weißen Anglo-Jamaikaners von aristokratischer Herkunft namens Chris Blackwell gegeben. Als Geschäftsunternehmen, das er beinahe wie ein Freizeitvergnügen betrieb, hatte er ein kleines Vertriebsnetz für ethnische Platten aufgebaut. Aber er hatte eine Zukunftsversion, was die potentielle Wirkung von Jamaikas pulsierender Antwort auf den Blues betraf.

      1962 brachte Blackwell sein winziges Blue-Mountain/Island-Label mit nach England, erwarb Master-Tapes, die in Kingston produziert worden waren, und veröffentlichte sie in Großbritannien auf Black Swan, Jump Up, Sue und dem Mutter-Label Island. Unter seinen ersten Künstlern waren Jimmy Cliff, Lord Creator, Wilfred ›Jackie‹ Edwards, die Blue Busters, Derrick Morgan, der Posaunist Don Drummond and the Skatalites und Bob Marley, dessen erste Single auf Island unter dem falsch geschriebenen Namen Bob Morley erschien.

      In England traf Blackwell mit seinen zukunftsweisenden jamaikanischen Rock-Platten auf Sympathie bei den modebewussten Mod- und Skinhead-Teenager-Bewegungen. Aber der große Durchbruch kam erst, als Millie Small, eine näselnde kleine Göre, die er managte, 1964 mit ›My Boy Lollipop‹ einen riesigen US-Hit landete, auf dem der Skatalite Ernest Ranglin an der Gitarre und ein unbekannter Harmonikaspieler aus der Band von Jimmy Powell and the Five Dimensions auf der Mundharmonika zu hören sind.

      Auf Jamaika war der Schlachtruf des Sound System Ska: ›Stay and Ketch It Again!‹ Der Mann hinter dem Plattenspieler