Petersburg. Andrei Bely. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrei Bely
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066116255
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      In der kurzen Zeit von der Treppe zum Arbeitszimmer veränderte Apollon Apollonowitsch durch eigenen Willen das Zentrum seines Bewußtseins; alles Spiel des Gehirns wurde an den Rand des Gesichtsfeldes geschoben: ein Häufchen parallel gelegter Akten aber bekam seinen Platz im Zentrum jenes Feldes.

      Apollon Apollonowitsch öffnete die Tür des Arbeitszimmers.

      Der Schreibtisch stand auf seinem Platz, und ihn bedeckte ein Haufen von Akten; Holzscheite knisterten im Kamin; ehe er in die Arbeit versank, wärmte Apollon Apollonowitsch seine frierenden Hände am Kamin; doch das Spiel des Gehirns fuhr fort, seine nebelhaften Flächen zu bauen und begrenzte das senatorische Gesichtsfeld.

      Apollon Apollonowitsch blieb in der Tür stehen — denn — wie nun anders?

      Das harmlose Gehirnspiel schob sich wieder in sein Gehirn, das heißt in den Haufen von Akten und Bittgesuchen.

      Apollon Apollonowitsch erinnerte sich: das Individuum hatte er schon einmal gesehen.

      Das Individuum sah er ein mal — denken Sie — im eigenen Hause.

      Er weiß noch: er stieg die Treppe hinab, um zum Empfang zu erscheinen; auf der Stiege stand Nikolai Apollonowitsch und unterhielt sich, über die Brüstung gelehnt, mit jemand, der unten stand: Nikolai über seine Bekanntschaften auszufragen — dazu hielt der Staatsmann sich nicht für befugt; das Taktgefühl hinderte ihn auch damals geradeheraus zu fragen:

      »Sag’ mal, Nikolinka, wer ist es, der dich da besuchte, mein Engel?«

      Nikolai hätte die Augen zu Boden geschlagen und hätte gesagt:

      »Nun so, Vater, mich besuchen eben . . .«

      Damit hätte das Gespräch sein Ende gehabt.

      Deswegen hatte auch Apollon Apollonowitsch für die Person des Individuums im dunklen Mantel, das unten stand, kein Interesse gezeigt. Der Unbekannte hatte dasselbe schwarze Schnurrbärtchen und dieselben Augen, dieselben absonderlichen Augen (solchen Augen können Sie nachts in der Moskauer Kapelle des Märtyrers Panteleymon begegnen: diese Kapelle ist berühmt durch Heilung Besessener; solche Augen würden Sie auf den Photographien sehen, die den Lebensbeschreibungen bedeutender Menschen beigegeben sind; und schließlich: solche Augen sehen Sie in neuropathischen und selbst psychiatrischen Anstalten).

      Schon damals hatten die Augen sich geweitet, zu spielen, zu glänzen begonnen; also war das schon einmal gewesen und wird sich vielleicht wiederholen.

      »Über alles — ja, ja . . .«

      »Notwendig . . .«

      »Genaueste Information . . .«

      Seine genauesten Informationen bekam aber der Staatsmann nicht auf direktem, sondern auf verschlungenem Wege.

      Apollon Apollonowitsch sah durch die Tür seines Arbeitszimmers: Schreibtische, Schreibtische! Haufen von Akten! Über die Akten gebeugte Köpfe! Kratzen der Federn! Knistern der umgeschlagenen Blätter! Was für fieberhaft gigantische papierne Tätigkeit!

      Apollon Apollonowitsch versank beruhigt in die Arbeit.

       Inhaltsverzeichnis

      Das Gehirnspiel des Trägers diamantener Orden hatte seltsame, sehr seltsame, höchst seltsame Eigenschaften: Sein Schädel wurde zum Behälter gedanklicher Bilder, die sofort ihre Verkörperung in dieser Gespensterwelt fanden.

      Mit Rücksicht auf diesen seltsamen, sehr seltsamen, höchst seltsamen Umstand hätte besser Apollon Apollonowitsch keinen seiner müßigen Gedanken von sich geworfen; denn jeder seiner müßigen Gedanken entwickelte sich hartnäckig zu einem räumlich-zeitlichen Bilde und setzte seine — jetzt nun unkontrollierbaren — Handlungen außerhalb des senatorischen Kopfes fort.

      Apollon Apollonowitsch war in gewissem Sinne wie Zeus: aus seinem Kopfe entstiegen Götter, Göttinnen und Genien. Wir haben es schon gesehen: einer dieser Genien (der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen), als bloßes Bild entstanden, begann dann in der gelblichen Newa-Räumlichkeit sein wirkliches Sein; dabei behauptete er, dieser Räumlichkeit, nicht dem senatorischen Kopf, entstammt zu sein; nun hatte aber auch der Unbekannte müßige Gedanken; und auch diese besaßen die gleichen Eigenschaften.

      Sie entflohen dem Hirn und wurden zu etwas Festem.

      Ein dem Kopfe des Unbekannten entflohener Gedanke war, daß er, der Unbekannte, wirklich existiere; vom Newskij-Prospekt lief dieser Gedanke zurück in das Senatorhirn und befestigte in ihm das Bewußtsein, die Existenz des Unbekannten in diesem Kopfe sei — eine illusorische Existenz.

      So schloß sich nun der Kreis.

      Apollon Apollonowitsch war in gewissem Sinne wie Zeus: kaum wurde in seinem Kopfe die mit einem Paketchen bewaffnete Pallas — der Unbekannte — geboren, als schon aus ihm eine zweite, ebensolche Pallas hervorstieg.

      Diese letzte Pallas war das senatorische Haus.

      Das steinerne Ungeheuer war dem Hirn entflohen; und nun öffnet es seine gastliche Tür — vor uns.

      Der Lakai stieg die Treppe hinauf; er litt an Asthma; doch ist nicht von ihm jetzt die Rede, sondern von — der Treppe: einer herrlichen Treppe! Die Stufen: weich waren sie wie die Windungen des Hirns. Doch diese Treppe zu beschreiben, über die öfters schon Minister gegangen waren, bleibt dem Autor keine Zeit, denn nun ist der Lakai schon oben im Saal . . .

      Aber auch — der Saal: herrlich! Fenster und Wände: die Wände etwas kalt . . . Aber der Lakai ist schon im Salon.

      Wir betrachteten das schöne Wohnhaus nach jenen allgemeinen Merkmalen, die der Senator an alle Dinge anzuwenden pflegte. —

      So: —

      In weiß Gott welcher Zeit einmal in die freie Natur gekommen, erblickte hier Apollon Apollonowitsch dasselbe wie wir; d. h.: er sah eine blühende Natur; für uns pflegt sie im Nu in einzelne Teile zu zerfallen: Veilchen, Butterblumen, Nelken; der Senator aber machte aus der Geteiltheit wieder eine Einheit. Wir würden natürlich gesagt haben:

      »Hier ist ein Gänseblümchen.«

      »Hier — ein Vergißmeinnicht . . .«

      Apollon Apollonowitsch sagte einfach und kurz:

      »Blumen . . .«

      »Eine Blume . . .«

      Unter uns gesagt: Apollon Apollonowitsch hielt alle Blumen, weiß Gott warum, für Glöckchen . . .

      Mit lakonischer Kürze würde er auch sein eigenes Haus charakterisieren; für ihn bestand es aus Wänden (die bildeten Quadrate und Kuben), aus durchgeschlagenen Fenstern, aus Parkettböden, Stühlen, Tischen; weiter kamen Details . . .

      Der Lakai trat ins Vorzimmer . . .

      Und da wollen wir uns erinnern: alles, was an uns vorüberglitt (Bilder, Klavier, Spiegel, Perlmutter-Inkrustation an den Tischchen), kurz alles, was vorüberglitt an uns — all das konnte keine räumliche Form besitzen: all das war nur Reizung der Hirnhaut, wenn nicht am Ende ein chronisches Kranksein . . . des Kleinhirns . . .

      Es entstand die Illusion eines Zimmers; sie zerfloß dann aber spurlos, und hinter der Grenze des Bewußtseins baute sie ihre nebelhaften Flächen; wenn der Diener die schwere Salontür hinter sich schloß, wenn seine Stiefel laut auf dem Korridorboden aufschlugen — das alles war nur ein Pochen in den Schläfen: Apollon Apollonowitsch litt an Blutandrang gegen den Kopf, dessen Ursache die Hämorrhoiden waren.

      Hinter der zugeschlagenen Tür war kein Salon: es war . . . Hirnraum: Windungen, graue und weiße Hirnmasse, die dicken Wände aber, die aus funkelnden Pünktchen bestanden (bedingt durch den Blutandrang), diese nackten Wände waren nur das bleierne Schmerzgefühl in den Nacken-, Stirn-, Schläfen- und Scheitelknochen,