Petersburg. Andrei Bely. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrei Bely
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066116255
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Seidenvorhängen, die leicht auf ihren Messingringelchen nach links und rechts glitten; eine sorgliche Hand konnte den Inhalt der Fächer vor dem Beschauer verdecken oder aber eine Reihe von Einbandrücken sehen lassen, die mit der Aufschrift »Kant« geziert waren.

      Die Sitzmöbel hatten dunkelgrünen Bezug, und herrlich war die Büste . . . eben desselben Kant natürlich.

      Seit zwei Jahren stand Nikolai Apollonowitsch nie vor Mittag auf. Zweieinhalb Jahre vorher pflegte er aber in früherer Stunde zu erwachen: um neun; und um halb zehn erschien er in geschlossener Studentenuniform beim Familienfrühstück.

      Vor zweieinhalb Jahren spazierte Nikolai Apollonowitsch nicht im bucharischen Schlafrock im Hause umher; das rote Käppchen hing nicht im orientalischen Salon; vor zweieinhalb Jahren verließ Anna Petrowna, die Mutter Nikolai Apollonowitschs, die Gattin Apollon Apollonowitschs, für immer den häuslichen Herd, inspiriert von einem italienischen Sänger. Nach ihrer Flucht mit dem Sänger erschien Nikolai Apollonowitsch auf dem Parkett des erkalteten häuslichen Herdes im bucharischen Schlafrock; die täglichen Begegnungen von Vater und Sohn beim Morgenkaffee hörten von selbst auf. Den Kaffee bekam Nikolai Apollonowitsch ins Bett.

      Zu erheblich früherer Stunde als der Sohn geruhte Apollon Apollonowitsch seinen Kaffee zu trinken.

      Vater und Sohn trafen sich nur bei Tische; und auch da nur ganz kurz; am Morgen aber sah man Nikolai Apollonowitsch im Schlafrock; seine Füße staken in pelzverbrämten, tatarischen Pantöffelchen, auf dem Kopfe aber hatte er ein rotes Käppchen.

      Der glänzende junge Mann wurde zum orientalischen Menschen.

      Nikolai Apollonowitsch hatte soeben einen Brief erhalten; einen Brief mit fremder Schrift; armselige Virsche von erotischer Nuance mit der verblüffenden Unterschrift: »Die flammende Seele«. Nikolai Apollonowitsch begann, um die Virsche genauer zu studieren, hilflos durchs Zimmer zu kreisen; nach der Brille suchend, warf er Bücher, Federhalter und andere Kleinigkeiten durcheinander und brummte vor sich hin:

      »Ah — ah . . . Wo ist doch nur die Brille?«

      »Hol’s der Teufel . . .«

      »Verloren? . . .«

      »Ha?«

      »Nein, so was!«

      Nikolai Apollonowitsch pflegte ebenso wie Apollon Apollonowitsch mit sich selber zu sprechen.

      Seine Bewegungen waren rasch wie die Bewegungen seines exzellenten Vaters; wie Apollon Apollonowitsch war er klein von Gestalt, und das stets lächelnde Gesicht hatte denselben ruhelosen Blick; versank er jedoch in Betrachtung irgendeines Gegenstandes, dann wurde allmählich dieser Blick steinern: trocken, klar und kalt zeichneten sich die Linien seines Antlitzes, wie das eines Heiligenbildes, überraschend durch besonderen, edlen Aristokratismus: das Edle des Gesichts zeigte sich besonders in der Stirn, die wie gemeißelt war, mit angeschwollenen Äderchen: das rasche Pulsieren dieser Äderchen war ein deutliches Voranzeichen frühzeitiger Sklerose.

      Diese bläulichen Äderchen entsprachen dem Blau um die riesigen kornblumenblauen Augen (nur in Augenblicken der Erregung waren diese Augen durch die erweiterten Pupillen schwarz).

      Wir sehen Nikolai Apollonowitsch vor uns mit seinem Käppchen auf dem Kopf; würde er es abnehmen, erblickten wir eine üppige flachsweiße Mähne, die den Trotzausdruck dieses kalten, fast rauhen Antlitzes milderte; schwerlich konnte man bald wieder bei einem Erwachsenen Haare von solcher Farbe finden; oft finden wir sie nur bei Dorfkindern, besonders in Weißrußland.

      Er warf den Brief unachtsam fort und setzte sich vor ein aufgeschlagenes Buch hin; die gestrige Lektüre, eine Abhandlung, entstand deutlich vor ihm. Er erinnerte sich des Kapitels und der Seite, des lenksamen Ganges der Gedanken und der am Rand des Buches gemachten Notizen; sein Gesicht, noch immer streng und klar, wurde lebhaft von Gedanken belebt.

      Hier in seinem Zimmer wuchs Nikolai Apollonowitsch in Wahrheit zu einem sich selbst überlassenen Zentrum; er wandelte sich in eine Serie aus dem Zentrum entstammender, logischer, für Gedanken und Seele vorbestimmender Voraussetzungen, und dieser Tisch da: er war hier das einzige Zentrum des Alls — des denkbaren und undenkbaren, alle Äonen der Zeit zyklisch durchlaufend.

      Aber kaum gelang es heute Nikolai Apollonowitsch, sich den Kleinlichkeiten des Lebens zu entziehen, dem Wirbel allmöglicher Unvernehmbarkeiten, genannt Leben und Welt; kaum gelang es ihm, sich zu sich selbst zu erheben, als eine dieser Unvernehmbarkeiten sich in seine Welt gedrängt hat:

      Nikolai Apollonowitsch riß sich von seinem Buche los, es wurde geklopft.

      »Na? . . .«

      »Was ist?«

      Hinter der Tür antwortete eine dumpfe, ehrfurchtsvolle Stimme:

      »Dort . . .«

      ». . . fragt jemand nach Ihnen . . .«

      Wenn Nikolai Apollonowitsch sich auf einen Gedanken konzentrierte, sperrte er die Tür seines Arbeitszimmers ab: dann begann es ihm zu scheinen, als verwandelten sich augenblicklich er selbst und die Gegenstände des Zimmers aus Dingen der realen Welt in nur gedanklich erfaßbare Symbole rein logischer Konstruktionen; der Zimmerraum und sein eigener Körper, der die Gefühlsfähigkeit verlor, wurden zum einzigen Sein-Chaos, von ihm das All genannt; sein Bewußtsein aber, abgesondert vom Körper, verband sich unmittelbar mit der elektrischen Lampe des Schreibtisches, von ihm genannt »Sonne des Bewußtseins«. So hinter der abgesperrten Tür, Schritt für Schritt seine zur Systemeinheit geschlossenen Sätze überdenkend, fühlte er seinen Körper sich in das »All«, d. h. ins Zimmer, ergießen; der Kopf dieses Körpers aber fand seinen Platz im dickbäuchigen kleinen Zylinder der elektrischen Lampe mit dem zierlichen Schirm.

      Und so sich in einen anderen Raum versetzend, wurde Nikolai Apollonowitsch ein wahrhaft schöpferisches Wesen.

      Das ist es, warum er es liebte, sich einzusperren: eine Stimme, ein Schritt oder ein fremdes Geräusch verwandelte das All in ein Zimmer, das Bewußtsein in eine Lampe und zerstörte in Nikolai Apollonowitsch den willkürlichen Bau der Gedanken.

      So auch jetzt.

      »Was ist’s?«

      »Ich höre nicht . . .«

      Aus den Fernen des Raumes antwortete des Lakaien Stimme:

      »Jemand ist hier.«

      Das Gesicht Nikolai Apollonowitschs bekam den Ausdruck der Zufriedenheit.

      »Ah, das ist wohl der Kostümeur? Er brachte mir das Kostüm.«

      Was ist es nur für ein Kostümeur?

      Nikolai Apollonowitsch ging hinaus, bog sich über die Brüstung der Treppe und rief hinunter:

      »Sind Sie’s?«

      »Der Kostümeur?«

      »Vom Kostümeur?«

      »Hat er das Kostüm geschickt?«

      Und wieder fragen wir von uns aus: Was ist das nur für ein Kostümeur?

      Im Zimmer Nikolai Apollonowitschs lag nun ein Karton. Er sperrte die Tür ab; geschäftig zerschnitt er die Kordel; hob den Deckel; dann zog er aus dem Karton: erst eine kleine Maske mit schwarzem Bart aus Spitzen, dann folgte ein hellroter prächtiger Domino mit rauschenden Falten.

      Bald stand er, ganz in Atlas und Rot, vor dem Spiegel, die Maske über dem Gesicht hochhaltend, die schwarze Spitze des Bartes verschob sich und fiel auf die Schultern, rechts und links, wie zwei phantastische Flügel; und zwischen den schwarzen Spitzenflügeln blickte aus dem Spiegel qualvoll-seltsam im Halbdunkel des Zimmers das Eigentliche: das Gesicht, sein Gesicht, sein eigenes; Sie würden sagen, dort im Spiegel sah Nikolai Apollonowitsch nicht sich selbst, sondern einen unbekannten, blassen, sehnsuchtskranken — Dämon des Raumes.

      Nach dieser Maskerade packte Nikolai Apollonowitsch mit ungemein zufriedenem Gesicht erst den roten Domino, dann auch die Maske in den Karton.