Drei Tage später wussten wir, dass wir alles richtig gemacht haben, denn es fingen die Unterschriftensammlungen für das Neue Forum* an. Wir machten mit und waren am 4. Oktober auf dem Weberplatz in Babelsberg bei der ersten großen Kundgebung mit mehr als 3.000 Leuten dabei. Das war noch vor Berlin, vor Leipzig. Die Bereitschaftspolizei wusste, dass sie stattfindet, und wollte die Kundgebung auflösen, hatte allerdings nur mit 300 bis 400 Leuten gerechnet. Als die Meldung kam, dass bereits 3.000 Leute da waren, hat der Einsatzleiter die Leute in die Kaserne zurückgeschickt. Bei nicht wenigen Funktionären gab es da wohl schon die Gedanken im Kopf, dass es so nicht weitergehen könne.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Wir konstituierten im November die Grüne Liga*. Ich wurde einer ihrer Sprecher und an den Zentralen Runden Tisch in Berlin delegiert. Das war eine sehr spannende, eine sehr demokratische, aber auch sehr wilde Phase. Hier kam alles zusammen: die alte Macht und die noch nicht formierte neue Macht, die neuen Bewegungen und die alten Parteikader. Auf der dritten Seite saß Hans Modrow* mit seiner Übergangsregierung, irgendwie in einer schwierigen Zwitterstellung. Der Runde Tisch hatte drei sehr gute Kirchenvertreter als Moderatoren, die immer wieder dämpften und ordneten. Das war sehr bewegend, weil es über diesem Tisch eigentlich nur ein einziges übergreifendes gemeinsames Motto gab: einen Übergang ohne Gewalt und Blutvergießen zu schaffen. Alles andere war different, auch die Ziele. Das rechne ich heute Hans Modrow noch hoch an, dass er das mit organisiert hat. Es waren immerhin noch 400.000 Menschen unter Waffen in der DDR. Und das so zu regeln, nicht wie in Rumänien und anderswo, das fand ich eine beeindruckende Motivation, bei mir sicher auch geprägt durch meine Großeltern.
Der Runde Tisch lief noch, wir bereiteten die Wahlen vor. Dann kamen die Verhandlungen mit Hans Modrow, der dachte, ihm schwimme das Land langsam weg, als er sagte: »Das geht so nicht mehr. Ich erwarte von den neuen Bewegungen, dass sie sich an der Verantwortung beteiligen, sonst könnt ihr das ohne mich machen.« Modrow* hatte damals bei allen hohe Reputation, man wollte auf ihn nicht verzichten. Der Deal war, die für den Mai geplante Wahl in den März vorzuziehen und das Zugeständnis der Bewegung war, dafür mit in die Regierung zu gehen und Verantwortung zu übernehmen.
Ich bin dann in den Westen gefahren, erst zum zweiten Mal. Das erste Mal war ich im Dezember 1989 bei Klaus Töpfer in Bonn. Jetzt ging es an die Evangelische Akademie nach Tutzingen – in eine Traumgegend –, um mit Leuten wie Genscher und Brandt zu diskutieren. Ich freute mich sehr darauf. Man hatte einige DDR-Leute dorthin eingeladen, von denen man dachte, aus denen könnte mal was werden. Ich war ein großer Willy-Brandt-Fan, nun sollte ich ihn aus der Nähe erleben – für mich ein Hochamt. Bevor es losging, wurde ich dort aber an die Rezeption, ans Telefon geholt, denn Handys gab es ja noch nicht. Die junge Grüne Partei der DDR hatte angerufen. »Du musst zurückkommen. Wir haben beschlossen, dass jede Bewegung einen Minister stellen soll. Du sollst für uns Minister werden.« Da habe ich gesagt: »Nein, ich bin gerade angekommen, ich will Willy Brandt hören, versucht, wen anderes zu finden«, habe also rumgezickt. Hinter mir stand ein Journalist vom ZDF, der bekam das alles mit und sagte: »Ich weiß nicht, was dich bewegt, aber auf so einen Anruf wartet man im Westen 30 Jahre und muss dafür hart arbeiten.«
Ich bin zurückgeflogen, habe das schöne Seminar nicht mitgemacht und wurde am nächsten Tag in der Volkskammer vereidigt. Ich hatte noch nicht mal einen passenden Anzug, bin zu nichts gekommen. Vorher brauchte ich keinen, hatte also einen Pullover an. Im DDR-Fernsehen wurde das alles übertragen. Abends rief mich meine Mutter an. »Klar«, dachte ich, denn es war das erste Mal, dass aus unserer Sippe einer Minister wurde. Aber sie sagte nur: »Junge, musste das sein, im Pullover!«
Plötzlich war ich Minister ohne Geschäftsbereich, eine spannende Zeit, in der ich mich u.a. um umweltpolitische Belange kümmerte. Wir besuchten auch die neue Regierung in Polen. Was mich besonders beeindruckte, war, mit Hans Modrow* zu Gorbatschow nach Russland zu fahren. Ich war früher schon mehrmals dort, habe auch mal ein Austauschpraktikum gemacht. Aber was ich dann sah, hat mich erschüttert. Viele arme Menschen auf den Straßen, die Versorgung war inzwischen miserabel, man sah, wie die Menschen in den U-Bahnhöfen den eigentlich verbotenen Alkohol tranken, und der Schwarzhandel blühte. Man hatte das Gefühl, dass das nicht mehr lange gut geht. Ein Jahr später war es ja auch vorbei.
Am 18. März 1990 bin ich für die Grüne Partei in das erste und letzte freigewählte Parlament der DDR gewählt worden. Dass alle Bürgerbewegungen zusammen bei dieser Wahl nur auf fünf Prozent kamen, war ein Schock. Aber viele Menschen hatten sich längst auf einen anderen Weg gemacht, sie wollten die schnelle Wiedervereinigung. Und wir hatten den Draht zu ihnen verloren.
Letztlich bildeten das Bündnis 90, die Grünen, die Frauenbewegung und andere eine kleine Fraktion in der Volkskammer mit 20 Leuten. In ihr fanden sich herausragende Köpfe der friedlichen Revolution wie Wolfgang Ullmann oder Jens Reich*. Ich wurde zum Parlamentarischen Geschäftsführer gewählt und gehörte so dem Präsidium der Volkskammer an.
Die Regierung unter de Maizière bildete sich und es waren fast alle Parteien vertreten, Liberale, SPD, CDU, DSU, aber zwei Gruppierungen nicht: die PDS* und die Bürgerbewegung. Die eigentlichen Antipoden der Revolution fanden sich also in der Opposition wieder. Ich saß in der Volkskammer neben Gregor Gysi und wir lernten uns dadurch gut kennen. Wir haben viel gearbeitet, viele Gesetze verabschiedet, hatten jeden Tag große Stapel auf dem Schreibtisch. Aber man merkte in Ansätzen, Stück für Stück, dass die Aufbauhelfer aus dem Westen nicht selten sagten: »Lasst uns das mal machen, wir wissen, wie es geht.« Bei uns merkte man das nicht so, aber bei anderen Parteien sehr wohl.
Die Volkskammerzeit war vorbei und wir mussten uns überlegen, was wir mit unserem gerade angefangenen politischen Leben weiter machen. Ich bin in den Bundestag kooptiert worden, fuhr nach Bonn und wusste schnell, egal, was du politisch mal machst: Bonn wird es nicht. Ich kam aus einer Stimmung im Osten mit täglichen Demonstrationen, die Luft brannte, nach der Währungsunion brachen die Betriebe zusammen, die Leute waren auf 180 und manchmal auf 200 – und in Bonn plätscherte ruhig der Rhein vorbei, alles ging seinen normalen Gang. Mein Gefühl war, dass man hier in einer anderen Welt lebte.
Wir, eine Crew aus der Volkskammerfraktion – Günter Nooke, Marianne Birthler und ich –, überlegten uns: »Wir gehen in unser Stammland Brandenburg und treten da in den Landtagswahlkampf ein. Wir machen Wahlkampf als Bündnis 90 für unsere Vorstellungen aus der friedlichen Revolution.« Wir verabredeten uns für den Wahltag abends in einem Café. Wir wollten uns verabschieden und jeder in sein berufliches Leben zurückgehen, nur eben nicht kampflos, sondern einen Schlusspunkt setzen. Dann kam das Wahlergebnis, und siehe da: Die Grünen, sie kandidierten gegen uns, kamen nicht in den Landtag, aber das Bündnis 90. Also mussten wir uns am Abend wieder umorientieren. Wir stellten eine Fraktion mit sechs Leuten im neugewählten brandenburgischen Landtag. Wir gingen in Koalitionsverhandlungen mit der SPD unter Manfred Stolpe und der FDP. Daraus wurde die erste Ampelkoalition von 1990 bis 1994 und ich wurde Minister für Umweltschutz und Raumordnung.
Jedes Bundesland hat ein Partnerland, wir Nordrhein-Westfalen. Und NRW hatte alles für Brandenburg durchgeplant. Vor allem das Personelle. Ich hatte mich als Umweltminister in den ersten Tagen nach einem Staatssekretär