Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895935
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Unbewußte und das Maggi-Kochstudio. Dirk Jurkschat wird mir durch sein profundes Verständnis jedweder Untergrundtätigkeit lieb. Daneben erfinde ich die Burgruine Liebau, um über sie ein Buch schreiben zu können (Auflage 1000 Expl.).

      Ich beschließe, wieder Hosen zu tragen. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Niederungen des Elbsandsteingebirges verschalle ich.

      Schade eigentlich.

       Titanic 1/1992

      AUS DEN KOLONIEN (4) – GREIZ

       Michael Rudolf

      Während andere Städte im Beitrittsgebiet mit wirklich zeitgemäßen Skandalen Aufsehen erregen, haben wir heute ein Beispiel ausgewählt, das mehr ob seiner ungeheuren Harmlosigkeit so kreuzgefährlich ist. Greiz liegt im Vogtland, einem intellektuell völlig ausgedörrten Landstrich zwischen Erzgebirge und Thüringer Wald, war ehedem Residenz des Kleinfürstentums Reuß Ältere Linie (346 km²) und in der Literatur Symbol für deutschen Kleingeist. Wir finden Greiz in den Werken von Karl Gutzkow und Heinrich Heine, aber auch bei Friedrich Engels. Im heurigen Jahrhundert waren es Karel Capek und Arno Schmidt, die es nicht lassen konnten. ˆ

      Die Stadt rühmt sich ihres literarischen Biotops, angeführt von Reiner Kunze selbdritt wimmelte es in den 60ern auf einmal von jungen Lyrikern, daß man es schon mit der Angst bekommen konnte – wirklich! Verschiedene Kreise sprechen auch heute noch ohne Vorbehalt von einer »Greizer Schule«. Aber, Hand aufs Herz, muß denn jeder Heimatschriftsteller gleich noch den Oppositionsersatz spielen? Item versucht die Clique der hier ansässigen Bildungsbürger eine Art kulturelles Leben zu inszenieren: poetische Klimmzüge zu Freejazz-Laubsägearbeiten – das ist die Saat von Ibrahim Böhme; doch weiterhin verwechseln sie hier l’art pour l’art mit Poularden. Während der alternative Nachwuchs in bewährter Weise blues- und folkverherrlichend vor sich hin laxiert und keramikzirkelt, hört sich das Gebaren ihrer Altvorderen wie eine öffentliche Anamnese an, vor allem beim Philosophieren über ihre Rektalgemälde. Nebenbei pflegen die hiesigen Vorzeigewiderständler wohlfeil Verständniskonversation mit dem Häuflein brauner Pest der Stadt, anstatt unverzüglich das mentale Dosenrecycling einzuleiten. Vielleicht liegt das alles daran, daß die Stadt zu DDR-Zeiten noch immer einen Anspruch auf die Medaillenplätze im Alkoholprokopfverbrauch geltend machen konnte. 1988 seien es um die 6000 Alkoholkranke (+ Dunkelziffer) gewesen, bei einer Einwohnerzahl von 36000. Dem Fremden fällt sofort der ungleich hohe Anteil deliranter Persönlichkeiten am hellichten Tage auf, die auch der allgemein üblichen Auffassung von äußerer Gepflegtheit sehr antithetisch begegnen.

      Neuerdings bereichern ambulante Imbißbuden wieder das Stadtbild, und wir fühlen uns an die gute Tradition mittelalterlicher Garküchen für die Stadtarmut erinnert, nur eben daß jetzt der geheimnisvolle Mikrowellenherd den großen Suppentopf ersetzt – in weitem Umkreis weggewor-fene Verpackungen und Halbverdautes. Wenn die Einwohner ihr monatliches Kurzarbeitergeld fassen, wird es teilweise auch in traditioneller Kost angelegt. Die Thüringer Rostbratwurst, ein mit jämmerlich übersalzenem, fettem Unrat gefülltes Gedärme, führt hier die Liste an, gefolgt vom Rostbrätel, einem kurzgebraten feilgebotenen Lappen Saufleisch. Beides wird bevorzugt stehend und in halb mineralischem Zustand verzehrt, spendet aber dem Einheimischen Kraft für seine inzestuösen Neigungen. An Feiertagen verkleidet sich die Hausfrau mit Lockenwicklern und garniert verbranntes Sau- und Kuhfleisch mit den berühmten Thüringer, vulgo Grünen Klößen, das sind labbrige Bälle aus Abfällen der Potatenfrucht mit der Konsistenz des Auswurfes von Kettenrauchern. Aber genug davon!

      Hier werden NVA-Offiziere Theaterdirektoren und Hobbyfaschisten MdL, und die gesamte SED- und Stasi-Kamarilla wandelte sich zu Versicherungsvertretern und Unternehmensberatern oder trägt orthopädische Mützen. Das passive Wahlrecht ist hier nicht sehr populär.

      Die sog. Wende hat’s auch möglich machen können, den neben Kunze und Böhme dritten großen Sohn der Stadt – Ulf Merbold – wieder daheim zu begrüßen. Da gab es obendrein noch ein »Vogtländisches Raumfliegertreffen« mit dem (ebenfalls vogtländischen) Ostpendant Siegmund Jähn.

      Wenn nicht in den schön anzuschauenden Neubausiedlungen, so doch in den die letzten romantischen Winkel des Weichbildes verunzierenden Schrebergärtchen geht das Wismut-Proletariat den deutschen Untugenden wie Bausparen, Videos und Grillen nach. Der Mittelstand frönt seinen gewohnheitsbedingten Ferkeleien und versucht ungebrochen, Forsythien-Blaufichten-Essigbaumbiotope überall, wo es auch nur geht, heimisch zu machen. In Tateinheit mit rustikal Schmiedeeisernem kommen vor allem, ist wirklich wahr, die aus gebrauchten Autoreifen gewerkelten und silbern bemalten Schwäne zur Ansicht.

      Was also noch? Ein völlig größenwahnsinniger, inzwischen abgesetzter Bürgermeister (Westimport), von dem man sich schön bescheißen läßt, das Satiricum, das ehedem die verschnarchte DDR-Satire zu einer Biennale zusammenfassen mußte, ein Orchester wie auch ein Theater, für die es kein Geld mehr gibt, sage und schreibe vier (4) Heimatzeitschriften und Pfarrer Matthias Pöhland: Am 8. September 1990, drei Wochen vor der offiziellen Heimholung, taufte er zwei Katzen auf die Namen »Luzi« und »Maggy«. Die Tiere trugen laut Bravo sogar »weiße Taufkleidchen«. Der Pfarrer durfte nicht mehr weitermachen, Greiz gibt es immer noch.

       Titanic 4/1992

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      AUS DER FRÜHGESCHICHTE DES VERLAGS WEISSER STEIN

       Gerhard Henschel

      Als »Kanzler der Einheit« hatte Helmut Kohl den Bürgern in den neuen Bundesländern »blühende Landschaften« versprochen, obwohl es wahrscheinlich klüger gewesen wäre, die allgemeine Aufmerksamkeit auf Blut, Schweiß und Tränen zu lenken. Einer der wenigen Neubundesbürger, die damals ernsthaft die Ärmel aufkrempelten und sich tatendurstig an die Arbeit machten, war Michael Rudolf. Wie optimistisch er in der Formationszeit des Verlags Weisser Stein in die Zukunft blickte, geht aus einem am 25. März 1992 in Greiz auf grauem Umweltschutzpapier aufgesetzten Brief hervor, in dem Michael Rudolf mich über eines seiner nächsten Etappenziele informierte: »Unser hauptamtlicher und eigentlicher Lektor, der Herr Gerd König, ist da mit mir einer Meinung: Du müßtest ganz einfach unser Hausautor werden (die Betonung liegt auf ›ganz einfach‹). Vorteil: Ruhm und Geld für uns alle satt. Nachteil: keiner. Also dann mal los!«

      Those were the days.

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       Gerhard Henschel, Michael Rudolf, Eugen Egner, Frankfurter Buchmesse, 1993.

      NACHDENKEN!

       Michael Rudolf

      Wollen Sie bitte mit mir darüber nachdenken, warum fränkische Blondinen dahingestümperte Graffiti dem Impressionismus zuordnen, warum Peter Glotz mit wehendem Mantel vor dem Frankfurter Hauptbahnhof kein Taxi kriegt und warum ich zum Nachtmahl bei laufendem Kroatenfernseh’ einen Ustaschasalat gegessen habe?

      Wollen Sie nicht?

      Gut, dann betrachten Sie das Angeführte als das wenige, was ich mir habe von der Frankfurter Buchmesse merken können.

       Kowalski 11/1992

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      EIN UNANGENEHMES WOCHENENDE

       Michael Rudolf

      Ich fahre schon ganz gerne mit der Bahn, da ich aber der Bequemlichkeit halber lieber allein im Abteil sitzen mochte, störte mich gleich ab dem nächsten Bahnhof eine wild pubertierende Schar behalstuchter Bengel unter Führung eines Uli. Vereinzelt angebrachte Sticker vom letzten Katholikentag machten die Zuordnung dieser Horde leicht, deren einzige Bestimmung es zu sein schien, neunzig