Wohin die Flüsse fliessen. Frederik Hetmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederik Hetmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783862871377
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      Es liegt mir fern, die Indianer als edle Wilde zu stilisieren. Festgehalten werden soll im Hinblick auf das andere Bild: Das Verhältnis der Indianer zur Natur, zu dem Land, in dem sie als Jäger, Fischer, teilweise aber auch als Ackerbauern lebten, war grundlegend anders als das der eindringenden Weißen.

      Wie sich diese Auffassungen voneinander unterschieden, wird in diesem Band durch die Gegenüberstellung von indianischen und angloamerikanischen Texten mit weltanschaulichen Aussagen klargestellt.

      Als weitere Annäherung an das andere Bild mag zudem hier das Zitat aus einem Essay dienen, das N. Scott Momaday, Kiowa-Indianer von Herkommen und in der Welt des Weißen Mannes Universitätsprofessor in Stanford und Romanautor, unter dem Titel »A First American Views His Land« in einer Nummer des National Geographie Magazine veröffentlicht hat. Er schreibt:

      »Der amerikanische Eingeborene der Gegenwart ist ein Mensch mit einem ausgeprägten ästhetischen Wahrnehmungsvermögen, das sich in seiner Kunst, seinem Handwerk, in seinen religiösen Zeremonien, in seinen Geschichten und seinen Liedern, in seiner reichen mündlichen Überlieferung, ausdrückt. Mein Großvater Mannedaty war in seinen reiferen Jahren ein Farmer geworden. Sein Großvater war noch ein Büffeljäger gewesen. Er war ein Kiowa, und bei den Kiowas gab es keine agrarische Tradition. Aber er musste seinen Lebensunterhalt verdienen, und das alte geliebte Dasein des Herumschweifens auf der Prärie und der Büffeljagd war für immer vorbei. Selbst unter diesen Umständen aber blieben sein bewusstsein, sein Wille und sein Geist dieser Landschaft verbunden. Es gab für ihn nichts anderes. Er hätte sich nicht vorstellen können, ohne dieses Land zu leben. In Der Weg in die Rainy-Mountains habe ich eine kleine Erzählung niedergeschrieben, die zur oralen Tradition meiner Familie gehört. Sie weist hin auf etwas Wesentliches in der Einstellung der amerikanischen Eingeborenen zur Landschaft. ,Im Osten des Hauses meiner Großmutter, südlich des Pecanwäldchens, liegt eine Frau in einem wunderbaren Kleid begraben. Die Mammedatys wussten einst, wo sie begraben lag, aber heute weiß es keiner mehr. Wenn man unter dem Vordach des Hauses steht und nach Osten in Richtung auf Carnegie schaut, weiß man, dass die Grabstätte der Frau irgendwo im Blickfeld sein muss. Aber ihr Grab ist nicht näher markiert. Sie wurde in einer Kiste beigesetzt, und sie trug ein sehr schönes Kleid. Wie schön es doch war. Es war eines dieser feinen Wildledergewänder und geschmückt mit Elchszähnen und Perlen. Das Kleid liegt immer noch dort unter der Erde.' Es scheint mir, dass diese Erzählung vor allem eine Erklärung der Liebe zum Land, zur Landschaft mit ihren verschiedenen Elementen darstellt - die Frau, das Kleid und diese Ebene werden am Ende eine Wirklichkeit, Ausdruck des Schönen in der Natur. Es scheint mir eine spezifische Haltung der eingeborenen Amerikaner, die Dinge so auszudrücken ... Sie werden nicht explizit erinnert – der Name der Frau, die genaue Lage des Grabes, all das ist für den Geschichtenerzähler nicht so wichtig. Wichtig ist die Verwandlung der Frau in die Landschaft, eine Verwandlung, die noch durch die Erwähnung dieses besonders schönen und einzigartigen Gewandes, eines indianischen Kleides, besonders akzentuiert wird.«

      Wer den Westen heute bereist, sich abseits der großen Straßen und touristischen Trampelpfade bewegt, wird, auch wenn er kein Indianer ist, begreifen, was Momaday meint, wenn er sagt, Land und Landschaft hätten für die Indianer eine spirituelle Dimension.

      »Daraus ergibt sich logisch»«, so fährt Momaday fort, »dass in einer solchen Auffassung ein ethischer Imperativ enthalten ist. Ich denke: Insofern ich das Land, die Landschaft bin, ist es angemessen, dass ich mich im Geist der Landschaft bestätigen lasse, mich in ihm meiner vergewissere. Ich werde mein Leben in der Welt feiern und in der Welt meinen Lebenssinn erkennen. In der natürlichen Ordnung bringt sich der Mensch in die Landschaft ein. Gleichzeitig stellt die Landschaft, das Land, für ihn eine fundamentale Erfahrung dar. Der Prozess der Einbringung und der Zustimmung ist vor allem eine Funktion der Einbildungskraft. Er kommt zustande durch einen Akt der Imagination, der eine besondere Ethik hat. Wir sind, was wir uns einbilden zu sein. Der amerikanische Eingeborene ist jemand, der sich selbst auf eine ganz bestimmte Art und Weise sieht. Durch seine Erfahrung schließt diese Vorstellung von sich selbst diese enge Beziehung mit der Landschaft mit ein.«

      Hier wird das Gegenbild jener von Herrschaftsansprüchen, Aggression, Sendungsbewusstsein, Besitzgier und Materialismus geprägten Mythe sichtbar. Es wäre falsch, zu behaupten, dass dieses Bild nur von den Indianern gesehen worden wäre. Es hat in der Geschichte bis heute immer wieder auch Weiße gegeben, die sich dieses anderen Bildes in Augenblicken oder dauerhaft bewusst geworden sind, die es als sinnerfüllt und mit einer Ethik, also mit einer Anweisung zum richtigen Leben, ausgestattet erkannt haben.

      Zugeben will ich gern, dass ich für diesen Band mit Vorliebe Texte ausgewählt habe, die das Bild der Naturschönheit und der magisch-spirituellen Naturverbundenheit des Menschen im Westen eindringlich hervortreten lassen.

      Bedürfte es dazu einer Begründung, so ließe sich sagen, dass eben dieses Bild in der Tradition des Weißen Mannes über Jahrhunderte hin eher verschüttet fortlebt. Es ist ein Bild mit vielen Zwischentönen, ein Zen-Bild, das unter Pulverdampf, Yippie-Gekreisch und Messergeblitz zurücksank in einen Hintergrund von Stille.

      Warum habe ich versucht, dieses Bild hervorzuheben, seine Details sichtbar werden zu lassen?

      Es geht nicht – um Missverständnissen vorzubeugen – um ein »Zurück zur Natur«.

      Es geht mir viel eher darum, aufzuzeigen, dass eine Einstellung des Menschen zur Natur, die vorwiegend unter dem Gesichtspunkt von Herrschaft und materieller Rücksichtslosigkeit vonstatten geht – abgesehen davon, dass sie die Menschheit durch die Auspowerung ihrer natürlichen Ressourcen in eine selbstmörderische Sackgasse führt –, ein fundamentales Bedürfnis des Menschen, nämlich das spirituelle, unberücksichtigt lässt.

      Gewiss wird es kein Zurück mehr geben. Gewiss ist der Traum von einem solchen Zurück nur neue Illusion, die sehr bald zuschande gehen und jene, die diesen Traum träumen, in noch tieferer Enttäuschung zurücklassen wird.

      Es wäre aber manches gewonnen, wenn unser Glaube an die Unabdingbarkeit immer rascheren und größeren Zuwachses an materiellen Gütern Zweifeln wiche. Zweifeln darüber, ob der Mensch ein Recht hat, Natur aus erster Hand völlig zu zerstören. Zweifel, ob die sich dabei ergebende Zuwachsrate an zivilisatorischem Komfort ungestraft weiter und weiter gesteigert werden kann. Zweifel an einem Glück, welches nur in einem Mehr und abermals Mehr an materiellem Besitz besteht.

      Das große Thema der Folklore des amerikanischen Westens ist die Begegnung des Menschen mit einer ebenso grandiosen wie übermächtigen Natur. Diese Natur ist heilend und zerstörend, schön und schrecklich, aber an sich weder gut noch böse; doch allemal muss der Mensch auf sie reagieren. Er kann versuchen, sie zu beherrschen. Er kann versuchen, sich in ihr einen Platz zu bestimmen und in Balance mit den anderen ihr zugehörigen Kräften und Wesen zu leben. In diesem Spannungsfeld vollzieht sich das wahre Drama des amerikanischen Westens. Es interessiert mich nicht nur als historische Reminiszenz. Es interessiert mich als Vorgang, an dem sich für unsere Position hier und heute sinngebende Hinweise ablesen lassen.

      Ganz bewusst habe ich bei der Auswahl der Texte zu diesem Band Augenzeugenberichte, Lebensläufe, Briefe, Tagebuchauszüge (die ja auch Formen des Volk-Erzählens darstellen) neben Mythen, Märchen, Sagen und Lieder gestellt. Wohin die Flüsse fliessen schließt sich als in sich abgeschlossener Band an das Buch Wohin der Wind weht an, der die Folklore des Ostens und des Südens der USA versammelte. Er wird sich mit einem bereits konzipierten Band Solange das Gras grün ist, der ausschließlich den amerikanischen Indianern gewidmet sein soll, zu einer Trilogie abrunden, in der dann sich hoffentlich jener traumhafte Entwurf einlöst, den ich am Anfang des ersten Buchs so umschrieben habe: Was ich mir vorstelle, ist dies: einen Flickenteppich aus Geschichten zu nähen, und schließlich wird daraus eine Landkarte der Fantasie.

      Frederik Hetmann

      Nomborn im Westerwald, Februar 1980

Foto

       Die Großen Ebenen und das Felsengebirge

      Tja,