Wohin die Flüsse fliessen. Frederik Hetmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederik Hetmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783862871377
Скачать книгу
wir es doch gebracht haben.

      Ganz ähnlich scheint mir die Wildwestgeschichte der Groschenromane und der durchschnittliche Wildwestfilm einen Spielraum zum Ausleben unserer sonst nicht abzuführenden Aggressionen zu bieten.

      Nun sollten aber Kunstprodukte, wenn sie als solche ernst genommen werden wollen, nicht lediglich zur Ersatzbefriedigung dienen, sondern wenigstens versuchen, kritisch auf das bewusstsein ihrer Zeit zu reagieren und – sei es als Utopie – neue Möglichkeiten des Reagierens auf das jeweilige Thema vorzuweisen. In einer Zeit, die so sehr wie die unsrige von Aggressionen bedroht ist, lassen sich aggressive Methoden auch nicht länger als harmlos belächeln.

      In einer Welt, in der der rücksichtslose Raubbau an Bodenschätzen und eine Hybris von der Allmacht der Technik und von der Verfügbarkeit der Natur die Menschheit an den Rand einer Katastrophe geführt haben, fällt es schwer, ungebrochen jenen Fortschrittstraum, als dessen erster Akt die Eroberung und Erschließung des Westens der USA ursprünglich verstanden wurde, zu glorifizieren oder auch nur unkritisch abzuspiegeln.

      Dass der Mythos vom Westen, den es zum Wohl der Menschheit in Besitz zu nehmen und auszubeuten gelte, später in einen größeren Rahmen übertragen wurde, beweisen beispielsweise jene Antworten, die der damalige US-Außenminister Kissinger 1972 in einem Interview mit der italienischen Publizistin Oriana Fallaci gegeben hat:

      »Dr. Kissinger, wie erklären Sie sich den unglaublichen Superstar-Status, wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Sie fast berühmter und populärer geworden sind als der Präsident?« »Der Hauptgrund liegt wohl in der Tatsache, dass ich immer allein gehandelt habe. Amerikaner bewundern dies ungemein. Amerikaner bewundern den Cowboy, der allein eine Karawane über Land führt, den Cowboy, der ein Dorf oder eine Stadt zu Fuß allein betritt. Allein und ohne Pistole, weil er einmal nicht schießen will. Er handelt. Das ist alles. Er setzt den Hebel an der richtigen Stelle an, zur rechten Zeit. Eine Wildwestgeschichte, wenn Sie so wollen.« »Ich verstehe. Sie sind also so eine Art Henry Fonda, unbewaffnet und bereit, mit den bloßen Fäusten für ehrenhafte Ideale zu kämpfen. Auf sich allein gestellt, tapfer.« »Nicht unbedingt tapfer. Bei diesem Cowboy bedarf es keiner Tapferkeit. Es reicht eben hin, dass er allein ist, dass er anderen zeigt, wie man ein solches Dorf betritt, wie man eine Aufgabe auf eine bestimmte Art löst. Dieser romantische überraschende Charakter gefällt mir. Allein zu handeln war immer ein Teil meines Stils oder meiner Technik, wenn Sie so wollen. Auch Unabhängigkeit. Und endlich Überzeugtheit. Ich bin immer unbedingt von der Notwendigkeit dessen, was ich tue, überzeugt.«

      Lassen wir einmal außer acht, welche – meiner Ansicht nach erschreckenden – Rückschlüsse auf den Zustand von Demokratie gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den USA von diesem Text her möglich werden; konzentrieren wir uns allein auf die Verbindung dieser Äußerung zum Mythos, so wird klar, dass gewisse Projektionen und Illusionen von der ursprünglichen Szenerie auf einen gewissermaßen weltweiten »Wilden Westen«, der freilich auch im Nahen oder Fernen Osten liegen kann, übertragen worden sind.

      Auch klar sein sollte, dass es somit beim Nachvollzug und bei der Verinnerlichung der Taten von Cowboys, Sheriffs und Indianern unter Umständen um mehr geht als um »Kinderspiele«.

      Vergegenwärtigen wir uns auch noch einmal die politisch-ideologischen Züge, die dem Mythos von Anfang an innewohnten: Aus dem vollständigen Text von William Gilpins »Mission des Nordamerikanischen Volkes«, den der Leser in diesem Buches findet, lassen sich durch Isolation einiger Schlüsselworte die politischen Antriebskräfte bzw. die Ideologie der Interessengruppen, die den Mythos propagierten, klar erkennen.

      Da heißt es unter anderem, es sei die »unerledigte Bestimmung des amerikanischen Volkes, den Kontinent zu unterwerfen«. Das im Englischen gebrauchte Verb ist »subdue«, und die Wortwahl ist hier bezeichnend. Dunkelheit soll in Licht verwandelt werden. Alte Nationen will man eine neue Zivilisation lehren, die Wissenschaft soll perfektioniert werden, um schließlich »to shed blessings round the world« (in etwa: solche Segnungen über die ganze Welt hinaus zu breiten). Bezeichnend ist schließlich, dass diese Aufgabe eine gottwohlgefällige, unsterbliche Mission genannt, also mit der Ausübung einer religiösen Pflicht in Zusammenhang gebracht, wird.

      Es gibt hinreichend viele Zeugnisse dafür, dass jenes bewusstsein, das sich bei Gilpin so pompös-pathetisch ausdrückt, in banalerer Form in fast allen Gruppen der westwärts ziehenden Menschen (Entdecker, Trapper, Scouts, Siedler, Goldsucher, Rancher und Farmer) vorhanden gewesen ist. Bis heute hat es sich in etwas entlegeneren Gegenden der USA unverwandelt und ungebrochen erhalten. Wer auf die uns allen nur zu bekannten negativen Seiten dieses bewusstseins hinweist, darf nicht übersehen, dass die Erfüllung der damals als Mission verstandenen Aufgabe ohne eine solche Überhöhung, Stilisierung und Mythologisierung wahrscheinlich nie gelungen wäre.

      Die Verklärung dessen, was einen unterwegs im Westen und am Ende des Trail erwartete, die Illusion von dem fernen Land als einem, in dem Milch und Honig fließen, waren nötig, damit sich Menschen trotz der Kunde über die schrecklichen Strapazen und Gefahren überhaupt auf den Weg machten.

      Aus dieser Überhöhung und deren Zusammenstoß mit der Realität ergibt sich eine besondere Form der amerikanischen Folk-Erzählung: die Tall-Tale, die »Übertreibungsgeschichte«. Freilich hat sie auch noch einen anderen, psychologischen Antrieb, nämlich prahlerisch auftrumpfend den Schrecken aus sich herauszustellen, den einem die als übermächtig empfundenen Naturphänomene eingaben, und ihn so zu überwinden.

      Nun ist zu Anfang von einem anderen Bild des amerikanischen Westens die Rede gewesen. Einem Gegenbild! Kann es das überhaupt geben?

      War nicht der Westen allemal hart, grausam, primitiv, ellbogenstoßend gewalttätig? Gewiss war er das, wie auch viele Texte dieses Bandes belegen. Aber es gibt tatsächlich nicht nur andere Schattierungen in diesem bekannten Bild, sondern, wie ich meine, tatsächlich ein ganz anderes Bild, das verdrängt worden ist.

      Um dieses andere Bild des amerikanischen Westens aufzufinden, müssen wir hinter das Bild des Westens vom Marlboro-Country, hinter das Bild des »Wilden Westens«, in dem Mr. Colt angeblich alle Menschen gleich machte, hinter das Bild vom »Gelobten Land«, ja selbst noch hinter das von den Spaniern geprägte Bild vom Westen als El Dorado zurückgehen.

      Tun wir das, stoßen wir auf einen Westen, der höchstens an seinen Rändern vom Weißen Mann besetzt war, einem Westen, in dem Indianerstämme, die sich selbst nicht selten »das Volk« nannten, noch in einer sich selbsterhaltenden, magischen Welt lebten.

      Nicht zuletzt deswegen sind in diesem Band zahlreiche Texte von Indianern aufgenommen worden, um dieses Bild vom amerikanischen Westen, um das Bild einer frühen Menschheit, wieder hervortreten zu lassen.

      »Der wichtigste Impuls hinter den Geschichten, Gedichten, ja selbst hinter der Wirtschaftsführung der Indianer«, so haben Frank Bergon und Zeese Papanikolas festgestellt, liege in der Anstrengung, die Trennungslinie zwischen dem Mythischen und Realen aufzuheben.

      Weiter heißt es bei den beiden Autoren:

      »Der Kojote, die Eulenspiegel- und Sinnsuchergestalt in den indianischen Mythen, ist darauf bedacht, den ihm angemessenen Platz im Universum zu finden, und zwar so, dass dieses in seiner Ganzheit nicht verletzt wird. In einem Medizinlied der Yuma-Indianer heißt es: ,Der Wasserfloh zieht die Schatten des Abends durch das Wasser hin auf sich.' Im indianischen bewusstsein hat ein am Rand der Schöpfung stehendes Geschöpf ebensoviel Gewicht wie der ganze Aspekt des Abends. Andrew Garcia, ein junger mexikanischer Händler, der 1870 durch Montana reiste, fand neben der Wegspur überall an den Bäumen die Hufe von Rehen hängen. Die Indianer hatten sie dort aufgehängt, um, wie sie erzählten, dem Reh-Volk zu verstehen zu geben, dass sie von der erlegten Jagdbeute alles aufgebraucht hatten mit Ausnahme der unbrauchbaren Hufe. Noch sahen die Indianer keine Notwendigkeit, sich umweltschützend in dem uns bekannten Sinn zu verhalten. Sie fingen Lachse während der Laichzeit im Frühjahr oder trieben Büffel über eine Klippe, denn solange Achtung gegenüber der Natur lebendig war und man durch die entsprechenden Zeremonien die Leute aus dem Tiervolk beruhigte, bestand Harmonie und der Vorrat an Lachsen und Büffeln blieb unerschöpflich. Nur wenn Tiere sinnlos getötet wurden oder wenn, wie das der Stamm der Washos glaubte, Tierreste,