An diesem 2. Oktober bereisten Politbüromitglieder und ihr Gefolge die Republik. Hager sprach in Begleitung von Bezirkssekretär Ziegenhahn vor Werktätigen in Gera; der Ministerratsvorsitzende Stoph tat dasselbe in Dresden, begleitet von Bezirkssekretär Modrow; nur Inge Lange, die Kandidatin des Politbüros und als Frau dort in einer Statistenrolle, blieb ohne eine solche gehobene Begleitung. In Berlin-Pankow wurde das Carl-von-Ossietzky-Denkmal enthüllt. »Ich bin tief berührt von der Ehrung«,80 sagte Rosaline von Ossietzky-Palm, die Tochter dieses Märtyrers der deutschen Demokratie, zu Politbüromitglied Schabowski, dem Berliner Ersten Bezirkssekretär, neben ihm Berlins Oberbürgermeister Krack – Wahlfälscher der eine, zum engsten Stasi-Info-Verteiler-Zirkel der Macht gehörend der andere.81
Im Panzerschrank Schabowskis lagen zu diesem Zeitpunkt die streng geheimen und zur Rückgabe an Mielke bestimmten Informationen 433/89 und 434/89 vom 2. Oktober.82 Sie gaben bis in die Details Aufschluß über Vorbereitungen zur Gründungsversammlung des »Demokratischen Aufbruch«, die am 1. Oktober, als die Züge mit den Ausgewiesenen durch die Republik rollten und Krenz vor Deng stand, in der Samariterkirche zu Berlin-Friedrichshain stattfinden sollte, dann aber unterbunden wurde. »Einsatzkräfte« der Deutschen Volkspolizei verwehrten den Gründern den Zutritt. Zusammenkünfte im kleinen Kreis, von den Überwachern als »Ausweichvariante« bezeichnet, schlossen sich an. Man traf sich in der Wohnung von Pfarrer Neubert,83 einem Studienreferenten des Bundes Evangelischer Kirchen, sowie im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchgemeinde Alt-Pankow, wo Bischof Forck dem Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters die gewünschte Einsicht in die Diskussionspapiere verweigerte. Forck, angeblich »in Leugnung des tatsächlichen Anlasses und Inhaltes der Zusammenkunft«, erklärte, man rede im Rahmen einer ökumenischen Begegnung über aktuelle Fragen von Frieden und Gerechtigkeit. Der Bischof wurde aufgefordert, die nicht religiösen Charakter tragende Zusammenkunft zu beenden. Er lehnte das ab. Die »Informationen« nannten die Pfarrer Neubert, Eppelmann, Schorlemmer, Meckel, Albani, Pahnke, Pastorin Misselwitz, Probst Falcke, Vikar Schatta, den Synodalen Fischbeck, Delegierter im konziliaren Prozeß in der Synode Berlin-Brandenburg wie im Kuratorium der Evangelischen Akademie, und andere als Beteiligte.
Der Physiker Hans Jürgen Fischbeck hatte am 13. August 1989 in der Ostberliner Bekenntnis-Gemeinde zur Gründung einer einheitlichen Sammlungsbewegung der Opposition aufgerufen. An diesem Tag hatten Großbritannien und die USA ihre Botschaften in der DDR geschlossen, nachdem Tausende das Land in Richtung Ungarn verlassen hatten und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Berlin (Ost) wegen Überfüllung schon am 8. August geschlossen worden war. In einigen der etwa 500 Basisinitiativen, die es in der DDR gab, war Fischbecks Vorschlag seit Monaten in der Diskussion. Der Synodale vertrat die innerkirchliche Gruppe »Absage an Prinzip und Praxis der Ausgrenzung« gegenüber einer Politik, die Honecker betonköpfig befolgte. Als die Leipziger sie mit dem Demospruch Wir lassen uns nicht auskrenzen! beantworteten, zielten sie gegen zwei Generalsekretäre und Staatsratsvorsitzende, Honecker und Krenz. Fischbeck erklärte, Marx und Engels hätten keine verstaatlichte Gesellschaft gewollt, bevor er, eines der vielen Perestroika-Defizite in der DDR benennend, sagte: »Der Sozialismus in dieser Form ist nicht vereinbar mit ehrlicher Offenheit, mit Glasnost. Nirgends, außer im ›Neuen Deutschland‹, steht geschrieben, daß der Sozialismus nur auf diese Weise zu erreichen ist«.84 Die innere Öffnung sei auch der einzige Weg, die Mauer abzubauen. Die Pfarrer Eppelmann und Meckel waren wichtige Vertreter demokratischer alternativer Parteibildung, Meckel als einer der vier Unterzeichner des Aufrufs der Initiativgruppe »Sozialdemokratische Partei in der DDR« vom 26. September,85 Eppelmann als einer der Initiatoren des Aufrufs vom 1. Oktober,86 der an die Gründung der Partei »Demokratischer Aufbruch (DA)« heranführte. Friedrich Schorlemmer, Wittenberg, als Pfarrer und Bürgerrechtler Mitverfasser der »20 Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft« vom Kirchentag 1988 in Halle, war es, der am 4. September in der Reformierten Kirche zu Leipzig mit den 300 Bleibewilligen diskutiert hatte. Sein Ziel hieß: Erneuerung, nicht Emeritierung des Sozialismus. Entweder sei dieser von Peking bis Berlin reformfähig, oder er verschwände erst einmal von der Bildfläche.87
Schabowski, Honecker, Stoph, Hager, Keßler, Herger, Inge Lange hatten die geheimen Stasi-Informationen vom 2. Oktober erhalten, und sie alle spielten innerhalb des von der Staatsmacht perfekt überwachten Raumes an diesem 2. Oktober ihre Rolle. Stand ihnen der Schrecken ins Gesicht geschrieben? Oder entging ihnen das Menetekel an der Wand? Wie sicher waren sie sich der eigenen Sicherheit? »Die Sicherheit«, das wußten sie, ließ die »feindlichen, oppositionellen Kräfte«88 nicht aus den Augen; sie drang bis in den unmittelbaren Umkreis der »bekannten reaktionären kirchlichen Amtsträger und anderer feindlicher, oppositioneller Kräfte«89 wie Eppelmann, Meckel, Schorlemmer vor. Der Schriftsteller Christoph Hein hat später, am 28. Oktober, in der Erlöser-Kirche zu Berlin beim Bekanntwerden schlimmer Gewaltanwendung gegen ein Mädchen gefragt, wie es dazu hatte kommen können, daß Polizisten dieses Kind so demütigten. »Ich habe immer wieder überlegt, warum die Polizisten das taten; und ich fürchte, ich habe die Antwort gefunden. Ich sage, ich fürchte es, weil die Antwort fürchterlich ist: Ich glaube, die Polizisten haben diesem Mädchen das angetan, weil sie sicher waren, daß wir weiter schweigen. Ich glaube, Susanne Böden wurde das angetan, weil man sicher war, wir schweigen wie bisher. Irgendwie sind wir an diesem Mädchen, Susanne Böden, und den anderen schuldig geworden.«90
Es liegt nahe, daß an der Spitze der gleiche Verhaltensmechanismus funktionierte. Er entstand aus Erfahrungen im Umgang mit der Macht, auch aus Nachkriegserfahrungen, sowie mit einer im Ganzen eben doch gefügigen Masse. Aus der Reihe tanzten die »Republikflüchtigen«, die man abzuschreiben bereit war, und der tapfere Rest, den man im Griff zu haben meinte. Die Klasse mit Bauch wurde mit dem Postulat der absoluten Wahrheiten, das vor ihr aufgerichtet war, zum Schweigen gebracht. Die geradezu ritualisierte Verknüpfung von Kritik, sofern es überhaupt zu Kritik kam, mit einleitendem Bekennen des Positiven zeigt, wie das parteiadministrative System Kritik blockierte. Sie zeigt natürlich ebenso die Nöte derer, die Kritik äußerten.
»Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.«91 Mit diesem Vermerk ermahnte der Minister Mielke die dem ersten und engsten Kreis der Macht Angehörenden zu absoluter Verschwiegenheit. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Sie war eine Gesellschaft geschlossener Kreise, und zwar in einer für moderne Gesellschaften extremen Weise, besonders seit dem 13. August 1961. Zu erklären ist das wohl aus der Abfolge zweier autoritärer Systeme und der in ihnen ausgebildeten Anpassungs- und Mitmachmentalität der nationalsozialistischen Kriegs- wie der Kriegskindergeneration, wobei aus der jugendlichen Restgeneration des ersten autoritären Systems die alternde Aufbaugeneration des nächsten hervorging.92 Dazu kam die Überwachungstätigkeit der Staatsorgane, die sondierten,