Der entscheidende Konstruktionsfehler des ›real existierenden Sozialismus‹ war ökonomischer Natur. Alle Erfahrungen laufen in dem Kernpunkt zusammen, den Karl Korsch 1912 hervorgehoben hat, als er feststellte, daß der Sozialismus »eine ausreichende Konstruktionsformel für die Organisation der Volkswirtschaft noch nicht gefunden hat«.17 Logischerweise müsse nach einer bestimmten Zeit eine Zerfallskrise des Sozialismus eintreten. Ohne Selbstkorrektur bleibe er »eine Entwicklungsstufe zu einem dann nur noch mit Gewalt zu verhindernden Kapitalismus«.18 Die demokratische Revolution in der DDR verlief mit dieser Logik. Der ökonomische Konstruktionsfehler im ›real existierenden Sozialismus‹ hatte zugleich einen irreparablen Demokratieverlust zur Folge, weil die assoziierte Arbeit in dieser Dimension eben nicht ohne den autoritären Zugriff auf den Menschen auskam.19 Der Dramatiker Heiner Müller hat von der feudalsozialistischen Variante der Aneignung des Mehrwerts gesprochen, bei der »das Volk als Staatseigentum eine Leibeigenschaft neuen Typs« erleide.20 Der Verlust an Demokratie war, wie die Geschichte der realsozialistischen Länder zeigt, meistens schon in die Staatsfundamente eingelassen.21 Auf dieser Grundlage verlief die Selbstzerstörung in geradezu systematischen Formen. Sie hat auch die in der Angst Lebenden beschädigt. Die Verursacher der Angst sind aber ebenfalls gezeichnet. So hat schon der Fall des Anwalts und Stasi-Informanten Schnur, Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs, nicht nur einen Täter gezeigt.
Selbstzerstörerisch war letztlich auch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik; ihre Kosten haben die DDR ganz wesentlich mit ruiniert. 1989 hatte sich längst erwiesen, daß die Produktivität sank. Dieser Realität entsprach die Redensart: Die Wirtschaft auf Verschleiß fahren. Die ›Verantwortungsträger‹ finanzierten ihren Machterhalt aus der Substanz des Landes.
Durch rigorose Gewinnabführung entmündigten sie die VEB-Staatsbetriebe nach dem Muster der Parteibetriebe, und auf die gleiche Weise die Bezirke, Kreise, Kommunen. Ohne die Zustimmung der Wirtschaftskommission des SED-Politbüros, der Günter Mittag vorstand (er wurde mit Honecker und dem für die Medien zuständigen Politbüromitglied Herrmann am 18. Oktober entmachtet22), konnte der Ministerrat (Vorsitzender: Stoph, SED), die Staatsmacht also, nichts entscheiden. Während der zentrale ›große Topf‹ voll lief, blutete das Land aus. Selbstzerstörerisch wurde in die Reproduktion der Volkswirtschaft eingegriffen. Die Politik der Subventionen setzte das Wertgesetz außer Kraft.23 Die Mittel, die der Grunderneuerung der Wirtschaft entzogen wurden, flossen in die Sozial-, Jugend- und Sportpolitik, in ein perverses Überwachungs- und Unterdrückungssystem, in Fonds für die Privilegien der an der Macht beteiligten Institutionen und Personengruppen und damit in Kanäle von Korruption und Machtmißbrauch. Selbst die paramilitärischen Kampfgruppen in den Betrieben verstrickten den einzelnen Kämpfer in die Privilegienwirtschaft, u. a. mittels einer Zusatzrente. Eine eigene Kampfgruppeneinheit, in der Professoren und Dozenten den Kampfauftrag der Partei erfüllen sollten, hatte sogar die Charité in Berlin.24
Die Unterordnung des Staatsapparats einschließlich Sicherheitsdienst, Polizei und Armee unter den Apparat der Partei drückte sich in der komplexen Verflechtung von Partei- und Staatsstrukturen aus. Die Parteistruktur hatte in gewisser Weise die Staatsstruktur in sich aufgenommen. Die Kaderpolitik folgte dem Grundsatz: Alle maßgeblichen Staatsfunktionäre sind Parteifunktionäre; die Parteisekretäre aller Ebenen gehören den staatlichen Leitungen an, die staatlichen Leiter den Parteileitungen. Das Ministerium für Staatssicherheit und seine Bezirks- und Kreisverwaltungen nahmen eine Sonderstellung mit totalem Überwachungsauftrag ein.25 Die Verflechtung mit den Leitungsebenen der Partei war allein schon durch die Parteizugehörigkeit der Sicherheitskader und durch den Minister als Politbüromitglied gegeben. In Fällen besonderer Dringlichkeit wurden die Parteikader im Rang der Ersten Bezirks- und Kreissekretäre über den Partei- und den Sicherheitsstrang in die Pflicht genommen.26
Der Selbstzerstörungsmechanismus, der dem System eigen war, hat die Führungsfigur Honecker nicht verschont. Wie vor ihm Ulbricht hat er eine ganz auf seine persönliche Herrschaft zugeschnittene Parteidiktatur errichtet.27 Inhaber des DDR-Personalausweises Nr. A 0000001 hat er die absurden Strukturen des parteiadministrativen Systems zur Vollendung gebracht;28 in ihnen hat sich der Antifaschist und Widerstandskämpfer moralisch zugrunde gerichtet. Die Demontage ist ihm zu Lebzeiten zuteil geworden. Vor dem Symbol der auf blauem Grund aufgehenden Sonne, d. h. als Jugendfunktionär mit kommunistischer Vergangenheit, ist er angetreten, um das bessere Deutschland zu erbauen. Das Land, das durch die Leistung unzähliger Menschen aus Kriegstrümmern wiedererstand, wurde für ihn zur besten aller Welten, und er meinte, der ›Fortschrittsstrang‹ deutscher Geschichte sei in der DDR wesentlich durch ihn zur Vollendung gelangt.
Parteihistoriker haben diese Vision ausgestaltet.29 Sie wiesen nach, daß das realsozialistische Drittel der geteilten Nation den Deutschen in der Bundesrepublik um eine ganze Gesellschaftsordnung voraus sei. Es entstand die Auffassung, es gebe eine selbständige sozialistische deutsche (Teil-)Nation,30 und diese kennzeichne eine zunehmende politisch-moralische Einheit. Die Fundamente dafür seien mit der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse gelegt worden. Aber es war ja nicht die Arbeiterklasse, die die Macht ausübte. Angeblich im Namen der Arbeiter herrschte die Parteiführung. Sie organisierte die flächendeckende Überwachung der Bevölkerung einschließlich der Parteibasis, sie verteilte die Privilegien, sie disziplinierte über das Parteistatut, das Gruppenbildung als Plattformbildung diffamierte und verfolgte, sie disziplinierte die Mitglieder über die Abstimmungsmaschine des ›demokratischen Zentralismus‹ und machte sie hunderttausendfach zu Mitschuldigen. All das hat Ablehnung, ja Haß erzeugt, auch unter Parteimitgliedern. Tatsächlich war die SED eine Partei der permanenten Mitgliederwerbung. Diese war ein Weg zur Instrumentalisierung bei nachlassender Systemeffizienz, ein Mittel der Einbindung in das Wahrheitsmonopol angesichts der Tendenzen zum Rückzug aus der Gesellschaft in der Mehrheit der Bevölkerung. Die Massenaustritte aus der Partei im Jahr 1989 sind für nicht wenige ein Akt der Befreiung gewesen. Die Machtausübung der Arbeiterklasse und die daraus abgeleitete politisch-moralische Einheit des Volkes waren eine Fiktion, die wie ein Kartenhaus zusammenfiel.
Das Ehepaar Honecker fand zuerst in einer kirchlichen Einrichtung Zuflucht,31 dann in einem Krankenhaus der Sowjetarmee. An den ersten freien Wahlen in der DDR nahm es nicht teil. Die Kirchen ermahnten die Menschen, gegenüber den Honeckers Barmherzigkeit zu üben, trotzdem wollte ihnen niemand eine Wohnung zur Verfügung stellen. In dem Prozeß, zu dem es schließlich vorübergehend gekommen ist, hat Erich Honecker nicht mehr vor einem Gericht der DDR, sondern vor einem des vereinigten Deutschlands gestanden. Die Figur hat die Strukturen überlebt, nachdem die Strukturen die Figur zerstört hatten?32 Der Spitzel war in der DDR allgegenwärtig. Unerkannt hat er sich in unserer Mitte bewegt und lebt vielleicht noch heute unter uns so, als wäre er nicht aktenkundig in der ungeheuerlichen Aktenflut der Stasi. Die Spitzel sind unter uns.33 Nicht ohne Grund hat das Bürgerkomitee Leipzig zur Auflösung des MfS am 10. Juni 1990 betont, daß es sich gegen alle Versuche von Regierung und Justiz wende, »diesen Teil der DDR-Geschichte für abgeschlossen zu erklären«?34
Wir alle haben uns in Strukturen der geschlossenen Gesellschaft bewegt und eingerichtet.35 Nicht zuletzt gibt es diejenigen, die durch nichts als ihre Arbeit mitschuldig geworden sind – Opfer der Weisungspyramide, die auf ihnen lastete und deren Spitze der Erste Mann der DDR war. Es waren Hunderttausende, die als letzte Weisungen und Anordnungen ausführten. Viele steckten in Zwängen der Selbstzerstörung wie jener Traktorist, der regelmäßig die Gülle einer Großviehanlage aus dem Tankwagen in die Elbe fließen ließ. Dafür wurde er bezahlt. Der Arbeiter, der am Braunkohlenaufschluß beteiligt war und die Pflastersteine historischer Straßen ausgrub, wußte, daß sie sich in D-Mark verwandeln würden. Mancher Gebildete ließ es geschehen, daß unter seinen Augen Kunstschätze, wertvolle alte Bücher und Dubletten aus Bibliotheksbeständen der Devisenbeschaffung zugeführt wurden. Arbeit in solchen Zwängen verlor ihren Sinn. Stadtarchitekten wußten um die zerstörerische Wirkung der Plattenbauweise, um die Abrißkraft der Baukombinate, die historische Stadtviertel niederwalzten, um Montagekran und Betonplatte den Weg freizumachen. Die Arbeiter fragten häufig nicht nach den Gründen, solange