Zweihundert Jahre, nachdem die Pariser die Bastille gestürmt hatten, erhoben die Leipziger die Forderung nach Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit. Wie viele Jahrestage hatten sie verdrossen und entnervt über sich ergehen lassen! In diesem Punkt aber, im Jahr des großen Revolutionsjubiläums, waren sie hellwach. Das läßt ein bestimmtes intellektuelles Umfeld dieses 2. Oktober erahnen. Bildende Künstler und Kunststudenten gehörten zu diesem Umfeld; in der Galerie auf der Burgstraße hatten sie im Juli gegen den Widerstand der »Apparate« eine Ausstellung mit eigenen Arbeiten zur Revolution in der aktuellen Perspektive der Erneuerung und des Protestes zustandegebracht. Sie forderten das parteiadministrative System heraus. Über einer Blutwanne erhob sich die Guillotine, die aus grauen Akten-Leitzordnern zusammengebaut war; Blutfarbe bedeckte Zeitungsausschnitte mit dem Bildnis Stalins; Glasnost-Berichte in kyrillischen Buchstaben enthüllten Scheußlichkeiten des Staatsterrors.124 Das war ein Bekenntnis zum »Enthüllungsjournalismus«, über den sich verunsicherte Genossen entrüsteten. Wer in die Galerie eintrat, konnte ein Trikolorefähnchen aus dem Karton nehmen, der herumgereicht wurde, und anstecken. Eine Kunsthistorikerin begrüßte alle und verlas anschließend mit erst stockender, dann fester werdender Stimme einen aufsässigen Text; das Revolutionsfähnchen hatte sie im blonden Haar stecken. Zum Massenruf konnte dieses Li-berté Ega-li-té Fra-terni-té als Frei-heit Gleich-heit Brü-der-lich-keit aber nicht werden; denn es ließ sich in dieser Dreiwortfolge, in der Brüderlichkeit aus der gleichmäßig gegliederten rhythmischen Bewegung ausbrach, nicht skandieren. Trotzdem, dieses Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!, es war an diesem 2. Oktober (und vermutlich schon am 25. September125) zu hören. Es gehört unverlierbar zur Geschichte dieser demokratischen Revolution, die im Herzen von Leipzig begann.
Der Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! stand für die selbstbestimmte Wahrnehmung des Koalitionsrechts durch Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt und die bald landesweite Bewegung zur Legalisierung des Neuen Forum; die Leipziger öffneten sich sofort und massenhaft dieser Bürgerbewegung, die für Gesellschaftserneuerung, Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden, für Schutz und Bewahrung der Natur eintrat und einen demokratischen Dialog erhob. Mit dem Ruf Frei-heit für die In-haf-tier-ten wurde ein Verlangen der Fürbittandachten auf den Vorplatz der Nikolaikirche hinausgetragen. Gegen die Greiftrupps kam plötzlich der Ruf Stasi weg, hat kein Zweck! auf, den die Bezirksbehörde Leipzig der Staatssicherheit vermutlich nicht »hochmeldete«; denn in der zentralen Information an das engere Politbüro fehlt darauf jeder Hinweis.126 Dieses Stasi weg! kündigte den bevorstehenden Bastillesturm an. Die Demonstranten begannen ihr Gor-bi! Gor-bi! Gor-bi! zu skandieren, dieses Bekenntnis zu Perestroika und Glasnost, den Grundelementen versuchter Sozialismuserneuerung in der UdSSR, und zur Gesellschaftsveränderung im eigenen Land. Die Bewußtseinslage der Beteiligten, welche vielleicht die Mauer an der Grenze zur Bundesrepublik noch als unabänderlich hinnahmen, aber Sturm zu laufen anfingen gegen den Mauerbau nach Osten und Südosten, wird in diesem Gorbi! Gorbi! überdeutlich. Der »entwickelte Sozialismus in der DDR« war eingeklemmt zwischen mehreren Mauern. Singend machten sich die Demonstranten Mut. Sie stimmten die Internationale an, Schulstoff aus dem Musikunterricht der Klassen 7 und 8 der Polytechnischen Oberschulen der DDR.127 Gelernt, verdrossen abgesungen, freiwillig nie wieder angestimmt bis zu diesem Augenblick, wo ein Stück aus dem Refrain genau paßte, um den Protest mit der ganzen Kraft der Stimme herauszusingen. »Völker hört die Signale, / auf zum letzten Gefecht, / die Internationale / erkämpft das Menschenrecht«. Die Menschenrechte. Wie waren sie verzerrt worden. Jetzt empfanden alle das Gleiche. Auf die Straße zu gehen war ein Menschenrecht. Im Ruf Demokratie jetzt! und im Gesang Auf zum letzten Gefecht klang zusammen, was die Größe des Augenblicks ausmachte. Es zu wagen. Jetzt. Mancher begriff erst hier, inmitten der Einschließung durch die Macht, den Verlust von Menschenrechten und daß er drauf und dran war, sie wiederzugewinnen. Aber wer wollte die Gefährdungen übersehen, die Demonstrationswiderstand heraufbeschwor? Wer im Strom der Demonstranten mitgegangen ist, hat die Gewalt gespürt, die von der Straße ausging, selbst wenn während des Leipziger Herbstes keine Steine geworfen worden sind, keine einzige Fensterscheibe zu Bruch ging, im ganzen Land kein Schuß auf einen Demonstranten abgegeben wurde.
Der sorgenvolle Satz, daß Demonstrationen kein Mittel der Konfliktlösung seien, ist sicher angesichts des enormen Disziplinierungsdrucks, der auf der Fürbittgemeinschaft lastete, ausgesprochen worden. In dieser Ermahnung zu Vorsicht, vielleicht auch Verzicht, steckte auch das Noch-nicht-Wissen-Können und Nicht-vorher-Wissen-Können, welchen unglaublichen Entwicklungssprung die Ereignisse nach diesem Montagsgebet vom 2. Oktober nehmen würden. »Gegen 18.25 setzte sich die Personenansammlung demonstrativ in Richtung Grimmaische Straße, Karl-Marx-Platz in Bewegung und zog dann weiter über den Georgiring in Richtung Hauptbahnhof/Tröndlinring.«128 Zum zweiten Male hatten die Demonstrierenden die Grundrichtung aller weiteren Montagsdemonstrationen, dieses großartigen demokratischen »Rundlaufs« revolutionärer Veränderung, eingeschlagen. Die friedvolle Eroberung des innerstädtischen Rings war tatsächlich ein »Rundlauf«. Am 9. Oktober wurde dann erstmals die volle Runde gegangen, die dann auch am zentralen Staatssicherheitsobjekt, am Stadthaus und am Neuen Rathaus, dem Sitz des Rates der Stadt, vorbeiführte.
Am 2. Oktober trafen die Demonstranten in Höhe Nordstraße / Reformierte Kirche, wo das Friedensgebet der Fünfzehnhundert stattgefunden hatte, auf massive Gegenwehr der Polizei. »Durch konzentrierten Einsatz der Kräfte der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Kampfgruppen konnte gegen 19.15 Uhr die Personenbewegung auf dem Tröndlinring/Ecke Nordstraße zunächst gestoppt werden. Dabei wurden wiederum Parolen gerufen. Insbesondere durch Gruppen Jugendlicher kam es zu tätlichen Angriffen auf VP-Angehörige, verbunden mit verleumderischen Beschimpfungen. Teilweise gelang es diesen Kräften, die Sperrketten der Volkspolizei zu durchbrechen.«129 Keine Erwähnung in diesem Bericht fand die LKW-Kette, die den Zug aufhalten sollte. Tätliche Übergriffe werden von Augenzeugen kaum bestätigt.
Vor den LKWs standen Polizisten dreifach gestaffelt. Die Männer in Uniform hielten sich an den Koppeln fest. Die Kette geriet unter den Druck der die »Marschsäule« von hinten Schiebenden. Andere umgingen die Polizei, zogen weiter. Die Demonstration bewegte sich auf den für den Massenprotest optimalen Weg dorthin, wo die Zwingburg stand, die Bastille. Aber zu neu und zu überraschend war vieles noch, sowohl für die Demonstranten als auch für die Macht. Wer auf der Straße hätte für möglich gehalten, daß er binnen nur einer Woche in solcher gewachsenen Massenhaftigkeit mit anderen fast die ganze Stadt umrunden würde? Selbst die diensthabende Besatzung des Stasi-Bezirksobjekts Runde Ecke schien dies angesichts der am Konsument massierten Polizei nicht erwartet zu haben. Plötzlich stand eine Gruppe junger Leute vor dem der Straße zugewandten Portal, dort, wo tagsüber der weit auf den »Bürgersteig« vorgeschobene Posten stand, der, weil um ihn sowieso ein Bogen gemacht wurde, wie um die ganze Einrichtung, verhinderte, daß Vorübergehende etwas vom halbdunklen Inneren der Eingangszone erhaschten. »Während an der bisherigen Marschroute vor jedem Frisörladen Polizisten standen, steht die Tür des dunkelgrauen Gebäudes sperrangelweit offen. Ein wenig zögernd, aber von den Rufen Neues Forum zulassen! angespornt, betreten einige die Stufen vor dem Portal. Sie stehen schon im Eingang, genauso verdutzt wie die Männer im Innern. In letzter Sekunde