Die Tür in die Freiheit sprang in den Montagsdemonstrationen weit auf, die Leipziger haben sie zuerst geöffnet. Irgendwo neben der Straße, auf der die Demonstranten zu Tausenden gingen, lagen die Masken mit dem Schafsgesicht, die sie so lange vor die Gesichter gehalten hatten. Über vieles hatten die Leipziger hinweggesehen, geschwiegen. Bis sie darüber erschraken, wie abgestumpft sie waren. Vielleicht erschraken sie zum ersten Mal, als sie erfuhren, daß der Auwald austrocknete, weil die Braunkohlentagebaue, die an den Rändern der Stadt fraßen, das Grundwasser absenkten; oder als ihnen eines Tages über den bunten Messefahnen und -fähnchen die blinden Augen der Geschäftshäuser in der Hainstraße auffielen, Häuser, die zu den ältesten Leipzigs gehörten. Oder als sie plötzlich sahen, daß ein zeichnendes Kind reagierte, wo sie selbst längst stumm geworden waren. Ich erschrak über drei Wohnhochhäuser, die auf der Schülerzeichnung eines Elfjährigen aufragten; in einem davon war er zuhause. Wo keine Wohnblöcke waren, füllte grauschwarze Luft den Raum vom Himmel bis zur Straße, auf der zwei Autos, ein blaues und ein rotes, wie auf den Grund eines Pfuhles gesunken, zu sehen waren. Auf der anderen Bildhälfte, durch einen Pinselstrich getrennt, winkte ein gelbes Haus mit Giebel. Darüber schwebten vier blaue Wolken, und vor dem Haus floß ein Bach durch eine Wiese. Wer von denen, die in den Demonstrationen gingen, hatte kein solches oder ein ähnliches Haus im Kopf? Wer hatte kein Wunschbild vor Augen? Schließlich weigerten sich die Männer und Frauen, die Schüler und Lehrlinge, in das reale Haus ihrer Ängste, der Verbote und Demütigungen zurückzukehren. Die Fahrt in den Betrieb, in die Schule am Morgen nach der Demonstration war eine solche Rückkehr. Der Ausbruch aus der geschlossenen Gesellschaft bleibt ein Fixpunkt in der Biographie der Beteiligten. Er kann helfen, Irritationen zu widerstehen, die vom Gang der Dinge im vereinten Deutschland ausgelöst werden. Dazu gehört auch die Idee, daß es vielleicht besser gewesen wäre, dies alles hätte gar nicht stattgefunden.
»Analysen zur Wende« nannten die Herausgeber die Beiträge zu dem Band »Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR«.3 Wende oder Revolution? Die friedliche Revolution brachte die Wende! Sie führte den Machtwechsel und über diesen schließlich auch den Systemwechsel herbei. Daß es ein bloßer Zusammenbruch war, kann ich aus dem Erleben heraus nicht bestätigen. Wer die Wucht der Demonstrationen nicht gespürt und deren langen Rhythmus nicht verarbeitet hat, dem ist Wesentliches entgangen.
Der Mecklenburger Uwe Johnson hat das Leipzig seiner frühen Universitätsjahre rückblickend die eigentliche und die wirkliche Hauptstadt der DDR genannt. Das parteiadministrative System hat die Vision eines neuen Deutschlands erdrückt, für die hier, in Leipzig, etwa die Geistigkeit eines Ernst Bloch, Werner Krauss, Julius Lips, Walter Markov, Hans Mayer stand.4 Wirklichkeit wurde der autoritäre Gegenentwurf einer neuen deutschen Republik der (Berliner) »Gruppe Ulbricht«.5 Es hat innere Logik, daß es Bürger und Bürgerinnen Leipzigs waren, die mit der Demontage des parteiadministrativen Systems begonnen und schließlich dessen Ende herbeigeführt haben. Der ungestüme Aufbruch in eine bessere DDR endete mit ihrem Untergang.
Zur Leipziger Neuauflage
Nachbemerkung vom Dezember 1989 anläßlich der Fahnenkorrektur von »Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte« (Urania-Verlag Leipzig / Jena / Berlin):
»Was ich über HERR und KNECHT, einen Gegenstand dialektischer Sozialgeschichte, schrieb, hat immer auch mit der Freiheit des Menschen zu tun. Knecht und Magd können den Herrn zum Rollentausch zwingen, Freiheit und Würde haben sie damit noch nicht errungen. Oder ein Dritter stößt den Herrn vom Stuhl, auf den Kunze sich setzt, und Hinze wird sein Fahrer (Volker Braun: Hinze-Kunze-Roman, Halle-Leipzig 1985) oder sein Spitzel.
MIELKE-KNECHTE schämt euch – haben Dresdner groß an die Mauer des auf dem östlichen Elbufer gelegenen Objekts Bautzener Straße geschrieben. Widmen möchte ich das Buch denen, die in Leipzig am 2., am 7. und am 9. Oktober in der Innenstadt und auf dem Ring gegen das System der Selbstzerstörung dieses Landes und seiner Menschen demonstrierten. Möge die Revolution es dauerhaft überwinden … Leipzig, Dezember 1989.«6
Aus der Absicht, jenes grundstürzende Geschehen zu dokumentieren, das Teil einer großen europäischen Freiheitsbewegung war,7 entstand »Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR« – mit Vorträgen im März 1990 an den Universitäten Rotterdam und Leiden, später an der Volkshochschule Bielefeld und dem Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Zum 38. Deutschen Historikertag in Bochum, September 1990, habe ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht das Manuskript eingereicht; es ist mit einiger Verzögerung 1993 erschienen. Die Ausgabe mit dem Umschlagbild von Wolfgang Mattheuer »Geh aus deinem Kasten«, 1985, Öl auf Leinwand, erzielte in kurzer Zeit zwei Auflagen. Auszüge sind vor allem für die Schule nachgedruckt worden.8
Das Buch ist schon lange vergriffen, und so war es der wiederholt erklärte Wunsch des Sax-Verlages, den Text nach Leipzig zurückzuholen, wo er entstanden ist und wovon er wesentlich handelt. Diesem Angebot und der Möglichkeit zu Erweiterungen der inzwischen stets und ständig ansteigenden berichtenden und Forschungsliteratur bin ich dankbar gefolgt. Ergänzende Titel in den Anmerkungen stehen kursiv. Weitere Hinzufügungen sind im laufenden Text mit einer grauen Hintergrundfläche kenntlich gemacht. Der Beitrag »Zeitzeugenschaft. Kommentar« und ein weiterer zur Leipziger Montagsdemonstration vervollständigen die Neuauflage; Letzterer ist überschrieben mit »Die Mauer muß weg! Leipzig am 6. November«. Ihn aufzunehmen, darauf hatte der Göttinger Verlag seinerzeit verzichtet. Sprechchöre und Transparente zeigen die Unumkehrbarkeit des Geschehens, das dem Fall der Berliner Mauer vorausging. Mein Kommentar zur Zeitzeugenschaft, damals, ist getragen vom Wissen um die Unsicherheit von Erinnerung und von deren Verlust durch Vergessen.
Ein Vierteljahrhundert ist seit der friedlichen Revolution vergangen, und ich sage von Herzen Dank für die Leipziger Neuausgabe dieses Buches, die der Sax-Verlag, vertreten durch Frau Birgit Röhling und Herrn Lutz Heydick, in die Wege geleitet hat. Vandenhoeck & Ruprecht hat die Verlagsrechte ohne Zögern zurückgegeben, Heinrich August Winkler seine Besprechung »Mehr als ein Zusammenbruch. Hartmut Zwahr über die Revolution in Leipzig und das Ende der DDR« (DIE ZEIT, 6.8.1993) zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Ich danke auch ihnen.
Leipzig, Januar 2014 Hartmut Zwahr
Selbstzerstörung
Im Herbst 1989 stand in der DDR die Metapher ›Rettung‹ für das Bewußtsein des großen Ausmaßes an individueller wie kollektiver, materieller wie moralischer Zerstörung, Selbstzerstörung. Rettet unsere Altstädte! – mit diesem Aufruf wandten sich Denkmalpfleger Ende Oktober 1989 an die Öffentlichkeit.10 Im November wurde der Zerfall ausgedehnter Gründerzeit-Wohnviertel Leipzigs in dem bedrückend-eindrucksvollen Film »Ist Leipzig noch zu retten?« des DDR-Fernsehens zum ersten Mal landesweit und zugleich von der bundesdeutschen und der internationalen Öffentlichkeit wahrgenommen. Rettet die Buchstadt Leipzig, forderten die Belegschaften Leipziger Verlagshäuser Anfang März 1990. Rettet Leipzig, Dresden, Altenburg, Weimar, Meißen, Görlitz, Bautzen usw. Und die Menschen? Sie waren von innen mindestens so kaputt wie die Häuser.11
Sie hatten in einem System realsozialistischer Selbstzerstörung gelebt. Es war im autoritär-stalinistischen Sozialismus angelegt und nahm Gestalt an, nachdem die Arbeiterrebellion vom 17. Juni 1953 und die Parteirebellion Rudolf Herrnstadts gegen Ulbricht12 gescheitert waren. Danach umschloß das Politbüro Ulbrichts die Fehlkonstruktion eines Systems autoritärer Herrschaft und zentralistischer Planwirtschaft mit dem Sicherheitspanzer des Machterhalts. Der Schutzschild gegen das eigene Volk wurde nach dem Aufstand in Ungarn 1956 verstärkt, als die Parteiprominenz die Wohnungen am Majakowski-Ring in Berlin-Pankow verließ und in die entfernte Waldsiedlung Wandlitz umzog. Das ›Wandlitzsyndrom‹13 entstand. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde der Sicherheitspanzer zum »antifaschistischen Schutzwall«.14 Als Breschnew und Ulbricht, die Führungsfiguren der Verschwörung gegen den demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei,15 dort die Alternative zum autoritären Realsozialismus zerstörten, verlor dieser weitestgehend seine Reformfähigkeit. Die Selbstzerstörung wurde international stabilisiert und war seitdem wohl endgültig