Ende einer Selbstzerstörung. Hartmut Zwahr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hartmut Zwahr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867295222
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Der Übergang in eine offene Gesellschaft, der trotzdem zustande kam, wurde getragen von den alternativen Basisgruppen, Gesprächskreisen, Initiativen, aus denen bis Dezember 1989 eine breite Bürgerbewegung und mehrere Parteien hervorgingen, zunächst im Untergrund, dann in der legalen und halblegalen Sphäre kirchlicher Freiräume.

      Am Beginn der Jubelwoche, am 2. Oktober, war das »Neue Forum« in seinen Grundlagen geschaffen.93 »Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglied des Neuen Forum zu werden.«94 Die Führung des Neuen Forum als einer parteiübergreifenden Bürgerbewegung appellierte an die Parteibasis der SED, »die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Lande«, ihr »enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung« in die Gesellschaftserneuerung einzubringen. »Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus! Führt die Diskussion in euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs.«95 Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Revolution eine Art Perestroika-Umbau des politischen Systems der DDR in einen Rechtsstaat und der zentralistischen Staatsplanwirtschaft in einen effektiven (marktwirtschaftlich organisierten) volkseigenen Wirtschaftsorganismus mit ökologischer Langzeitperspektive. »Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in einer Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.«96 Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs vom 10. September97 erklärten, unbeirrt davon, daß die Anmeldung auf Zulassung als Vereinigung abgelehnt worden war, ihre Tätigkeit als Bürgerinitiative fortzusetzen, Programm und Statut vorzulegen und die Vereinigung erneut registrieren zu lassen. Auch darüber lag den Hauptverantwortungsträgern am 2. Oktober ein detaillierter Bericht aus der Zentrale der Staatssicherheit vor.98 Gegenwärtig, hieß es sinngemäß, arbeiteten die »Inspiratoren/Organisatoren« des »Neuen Forum« an einem sogenannten Problemkatalog für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR. »Es soll insbesondere ›Lösungsvarianten‹ in den Bereichen Wirtschaft und Ökologie (strategische Änderungen in der Wirtschaftsführung, Teilnahme der Werktätigen an der Lenkung der Wirtschaft, Reduzierung der Umweltbelastungen, Beseitigung des Mißverhältnisses zwischen Preis und Leistung), Wissenschaft, Kultur und Geistesleben sowie Staat (Schaffung eines Rechtsstaats, Reform des Wahlrechts, uneingeschränkte Gewährleistung der Grundrechte, uneingeschränkte Freiheit im Reiseverkehr) enthalten.«99 Als Sprecher werden die Malerin Bärbel Bohley,100 der Leipziger Student Michael Arnold, der Rechtsanwalt Rolf-Rüdiger Henrich und der Biologe Professor Jens Reich sowie andere BürgerrechtlerInnen genannt.

      Als erste haben Künstler, andere Kulturschaffende und kirchliche Kreise, dazu die vielgestaltigen Basisgruppen zur Legalisierung und vor allem zur republikweiten Ausbreitung der Bürgerbewegung beigetragen. Der Gründungsaufruf des »Neuen Forum« wurde auf kirchlichen und anderen Versammlungen verlesen, in Basisgruppen erörtert, vervielfältigt, weitergegeben, Unterschriften wurden gesammelt. Die Zeit ist reif.101 Mit dem Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! hatten sich Demonstranten, erstmals am 25. September in Leipzig, zur Bürgerbewegung bekannt,102 von der sie ein Teil waren. Danach wurde die Forderung allmontäglich erhoben, bis das SED-Politbüro, das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium des Innern der DDR am 8. November nachgaben.

      In Dresden und Rostock setzten sich Mitglieder der Bezirksvorstände des Verbandes Bildender Künstler am 27. September für die Ziele des »Neuen Forum« ein.103 Die mit 22 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen verabschiedete Rostocker Resolution forderte die Partei- und Staatsführung zum »offenen politischen Dialog« mit allen politischen Kräften des Landes auf und begrüßte ausdrücklich die Tätigkeit des »Neuen Forum«. Die in der Öffentlichkeit wirkungsvollste Solidarisierung mit dem »Neuen Forum« ging aber am 25. September von der Sitzung der erweiterten Sektionsleitung Rockmusik sowie Lied und Kleinkunst aus. Die Teilnehmer beschlossen gegen den Widerstand des Generaldirektors, die Erste Resolution der Rock-Künstler vom 18. September104 auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen zu verlesen.105 Das geschah dann bei Auftritten der Rockgruppen Die Zöllner, Notentritt, Pankow und Silly106 sowie der Liedermacher Wenzel, Mensching, Eger, Schmidt, Riedel und Halbhuber. Sie haben sich nicht zum Schweigen bringen lassen. »Es geht nicht um ›Reformen, die den Sozialismus abschaffen‹, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung den existierenden Widersprüchen gegenüber gefährdet ihn«, heißt es in der Resolution. »Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.« Schließlich: »Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme.« Dann die schwer wiegende Feststellung. »Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns!«107

      Diese Künstler haben viel dazu beigetragen, das Neue Forum außerhalb Berlins bekanntzumachen. Die Zustimmung zum »basisdemokratischen Wirksamwerden von DDR-Bürgern« und »offene Diskussion« über den Zustand des Landes forderten ferner Mitarbeiter im künstlerischen Bereich des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR und besonders das Jugendradio. Die »chronische Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und politischen Erklärungen« müsse überwunden werden. Die Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal und die Vertrauensleute des Deutschen Theaters Berlin verlangten am 26. September in einem Offenen Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats, die »Massenmedien in unserem Land für das Gespräch über unser Land« zu öffnen und »die Gedanken von Neues Forum und anderen« zu veröffentlichen.108 Gleichfalls am 26. September informierte das Neue Forum Leipzig, vertreten durch die Studenten Michael Arnold und Edgar Dusdal, daß die Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes den Antrag auf Anmeldung des Neuen Forum mit der Begründung, es gäbe in der DDR keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine solche Vereinigung, nicht stattgegeben habe. Alle Handlungen bezüglich dieser Organisation seien sofort einzustellen. Die beiden Sprecher bekräftigten, daß die Antragsteller in Übereinstimmung mit Artikel 29 der Verfassung109 an ihren Zielen festhalten würden. »Deshalb bitten wir jede Bürgerin/jeden Bürger, die/der von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Vereinigung Neues Forum überzeugt sind, sich per Eingabe an das Ministerium des Innern, Mauerstraße 29, Berlin 1086, zu wenden.«110

      Der in der Überwachungszentrale des MfS, Normannenstraße, aus allen diesen Informationen gewonnene Extrakt wurde in den Köpfen und Nervensträngen der Hauptverantwortungsträger zur bohrenden Sorge um den Machterhalt. Die »streng geheimen« Informationen vom 2. Oktober 1989 haben sich offensichtlich noch vor der Montagsdemonstration am Abend des 2. Oktober zur Erkenntnis vom tatsächlichen Entstehen einer landesweiten Bürgerbewegung verdichtet. Leipzig, »die wahre Hauptstadt« der DDR, wie Uwe Johnson sie im Rückblick auf sein Studium dort genannt hat,111 rückte nunmehr endgültig ins Zentrum des Demokratiegeschehens.

      Leipzig am 2. Oktober

      Die Markttage lockten viele Leipzigerinnen und Leipziger nach Arbeitsschluß in die Innenstadt, so auch an diesem Montag, an dem in der Nikolaikirche abermals 2.000 Menschen und mehr zum Friedensgebet zusammenkamen. Sie gingen dorthin aus Verantwortung und in der Sorge um die Zukunft ihrer Stadt und des Landes. Sie überwanden alle Bedenken, auch die, gesehen und erkannt zu werden. Auf dem nahegelegenen Sachsenplatz saß man im Freien, trank Bier, die Kinder Limo, das Glas Einfachbier noch für einundfünfzig Pfennige, Pilsener war teurer, man aß seine Bratwurst, die kostete achtzig und das Brötchen dazu fünf Pfennige, zum gleichen Preis gab es auch eine Bockwurst mit Semmel. Mancher stellte sich zweimal an oder kam mit zwei Biergläsern wieder, um zu essen und zu trinken, zu gucken und zu reden. Über dem Ganzen lag durchaus eine sonst unübliche Spannung. Denn die meisten, die gekommen waren, wußten, daß sich am späten Montagnachmittag um die Nikolaikirche herum gewöhnlich etwas zusammenbraute. Es schien, als hätten es die Leute nicht eilig, nach Hause zu kommen; sie dachten wohl, mal