Ende einer Selbstzerstörung. Hartmut Zwahr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hartmut Zwahr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867295222
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in den Dialekten der Republik über Unterricht und Leistungskontrollen und über Referate, die sie zu schreiben hätten. Während die anderen zuhörten, sagte einer ziemlich unvermittelt: »Da haben uns die alten Männer diesen Abend auch noch versaut.« Schweigen. Sie warteten. Bestellten die nächste Runde.

      Die Nikolaikirche war zu diesem Zeitpunkt restlos überfüllt, deshalb entschied man sich, sie zu schließen, bevor die Andacht begann. Das Friedensgebet wurde an diesem Oktobermontag erneut zum Forum des innenpolitischen Protests. Am 18. September hatte in der damals mit mehr als 2.000 Teilnehmern überfüllten Nikolaikirche sowie in anderen Kirchen der Stadt die erste Fürbittandacht für die Inhaftierten vom 11. September stattgefunden. Kerzen brannten entlang der Kirche, Blumen verkündeten Protest. Die Bürger und Bürgerinnen waren aufgerufen, täglich, gegen 17.00 Uhr, Blumen zu bringen und schweigend stehenzubleiben. Am 20. September waren dann vier Leipziger Demonstranten zu je vier Monaten Haft verurteilt, über andere waren drakonische Geldstrafen verhängt worden. Jetzt sollte die Forderung nach Freilassung der in den Vorwochen inhaftierten Kirchenmitarbeiter und Bürgerrechtlerinnen durch Fasten öffentlichkeitswirksam gemacht werden. Am Morgen dieses 2. Oktober hatten sich Leipziger Theologiestudenten zu einer Andacht zusammengefunden. »Was wird in den nächsten Tagen und Wochen auf uns zukommen? Der Weg der Reform oder der Weg der Gewalt?«, lautete die bange Frage. Heile Du mich, Herr, so werde ich heil, hilf Du mir, so ist mir geholfen (Jer. 17,14). »Einfach das Geschäft des Tages weitertreiben, das kann derzeit wohl keiner von uns.« Der Weimarer Pfarrer Richter sei, hieß es, unter Hausarrest gestellt worden. Der Kirchensoziologe Neubert sähe, dies eine andere Nachricht, seine Wohnung weiträumig von Mitarbeitern der Staatssicherheit umstellt. Die Kampfgruppen, so das Gerücht, sollten in Leipzig am Nachmittag erstmals in Bereitschaft versetzt werden. »Die Uhren ticken anders, seit Wochen schon.« Herr, unser Gott, wir stehen in den Umbrüchen und Erschütterungen unserer Zeit. Vielleicht sind sie nicht geringer als zur Zeit des Propheten Jeremia … Gib den Inhaftierten die Ruhe und die Überlegenheit, vor ihren Untersuchungsrichtern klar und deutlich über die Gründe ihres Engagements zu sprechen.112 In den vergitterten Fenstern beiderseits der sich zum Nikolaikirchhof hin öffnenden Kirchentüren hingen Texte; unter Asternsträußen und Kerzen wurde die Freilassung der mindestens siebzehn seit dem 11. September inhaftierten Demonstranten gefordert.

      Die Revolutionsgeschichte kennt nicht wenige Beispiele von Gefangenenbefreiungen. Das heißt, Gefangennahmen wurden mit Befreiungsversuchen beantwortet, die ihrerseits den Widerstand eskalieren ließen und häufig den offenen Konflikt mit der Macht überhaupt erst auslösten. Die Entwicklung in der DDR näherte sich damals diesem Punkt, zumal am gleichen Abend in Ost-Berlin in der Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für die in verschiedenen Städten der DDR zum Teil schon seit Juni inhaftierten rund 30 BürgerrechtlerInnen begann.

      In der Leipziger Nikolaikirche saßen inmitten der zweitausend Betenden eine »größere Anzahl gesellschaftlicher Kräfte«,113 wie die Überwacher vor Ort im Apparat genannt wurden. Was sie berichteten, liest sich im Extrakt, den die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit am Tag darauf den Hauptverantwortungsträgern zuleitete, wie folgt: »In der Nikolaikirche wurde nach einem Gebet ein Brief der Studentengemeinde der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens verlesen, in dem gegen die Inhaftierung von Personen, die verhängten Sanktionen und den Einsatz von Sicherungskräften nach dem sogenannten Montagsgebet am 11. September 1989 protestiert wurde. Außerdem erfolgte eine Orientierung auf ein geplantes ›Fasten für die politischen Häftlinge‹ vom 2. bis 8. Oktober 1989 in der Versöhnungskirche in Leipzig-Gohlis. Anschließend wurde darauf verwiesen, daß Ausreise keine Alternative‹ ist und Demonstrationen kein Mittel‹ in der gegenwärtigen Zeit seien. Man sollte sich ›hier in den Kampf einreihen‹.«114

      Die Proteste gegen die Massenfestnahme am 11. September wurden lauter und öffentlichkeitswirksamer. An jenem Septembermontag waren elf junge Männer und Frauen wegen »Zusammenrottung« in Haft genommen worden. Weitere 104 Zugeführte kamen wieder frei, aber mit Ordnungsstrafen in Gesamthöhe von 66.000 Mark, wobei die Einzelstrafe zwischen 1.000 und 4.000 Mark lag.115

      Gegenüber September war ein dramatischer Stimmungsumschwung eingetreten. Die Forderung Wir bleiben hier!, aus der Konfrontation mit Ausreisewilligen entstanden, rückte ins Zentrum des Montagsgebets.116 Sie wurde zum Willensfundament des Leipziger Oktobergeschehens, auch für schon Gehende, die dann, als sie zu Dableibenden geworden waren, für Vereinigung votierten. Der Journalistin Petra Bornhöft fiel am 2. Oktober auf, daß draußen, außerhalb der Kirche, nur wenige die übliche Ausreise-Kluft trugen, ›Schnee-Jeans‹, schwarz-rot-goldene Aufnäher, Gorbatschow-Sticker an der Brust. Die Zusammensetzung der Wartenden hatte sich verändert. Petra Bornhöft sah Schüler, Schülerinnen, »einige wenige Punks; ansonsten dominiert die Gruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen«. Jemand sagte: »Wenigstens lassen sie uns mit dem Jubiläums-Zeug in Ruhe«. Der Journalistin von außerhalb war nicht entgangen, und den LeipzigerInnen natürlich auch nicht, daß außer den Fahnen an den Ausfallstraßen kaum etwas auf die Jubelwoche zum Vierzigsten der DDR hinwies,117 die in Berlin am Vormittag mit einem Auszeichnungsakt begonnen hatte. Sie sollte nicht nur für viele Berliner zu einer Karwoche, einer Schmerzenswoche werden.

      Wer an diesem Oktobermontag in St. Nikolai keinen Einlaß fand, wurde durch Aushang und dann durch den Kirchensprecher zur Reformierten Kirche am Tröndlinring weitergewiesen. »Wegen Überfüllung geschlossen. Bitte haben Sie Verständnis. Um 17.15 findet in der Kirche der Reformierten Gemeinde eine weitere Andacht statt.«118 Dort waren schließlich etwa 1.500 Menschen versammelt; die »Organe« freilich zählten angeblich nur dreihundert bis vierhundert.119 Die Predigt hielt Dominikanerpater B. Venzke. Die Entscheidung, auf Bitte von Superintendent Magirius auch in der Reformierten Kirche am Ring ein Friedensgebet abzuhalten, entsprach dem Bedürfnis nach Solidarisierung; sie konzentrierte nun Aktion und Aktionserwartung auf zwei Punkte in der Stadt, zu denen und von denen sich Menschen in Bewegung setzten. Der Zuzug in die innere Stadt verstärkte sich aus der Richtung Tröndlinring.

      Die Menschenmenge, welche die Nikolaikirche umgab, begann sich bald ins Schumachergäßchen, in die Nikolai- und die Ritterstraße hinein zu stauen. Sie war von etwa drei- bis sechstausend Menschen (dem Minister für Staatssicherheit wurden nur elf- bis fünfzehnhundert gemeldet) auf dreizehn- bis achtzehntausend angewachsen (Meldung an die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin: Eine »Personenkonzentration« von 3.500 Menschen120). Die Überwacher hielten »eine beträchtliche Anzahl« für »Neugierige«,121 was sicherlich zutraf. Aber aus Neugierigen wurden Teilnehmende. Nachdem der Anfang gemacht war, zündete die Massenerkenntnis des Augenblicks: Jetzt oder nie (Demokratie) jetzt oder nie! Das war ein Massenappell neuer Art, ein Ruf zur Selbstermutigung, den Tabubruch zu wagen. Die Masse richtete ihn an sich selbst. Bisher waren die Appelle von den Tribünen gekommen, von den Präsidien, von jemandem, der andere anleitete, und die Leute hatten sich abgeduckt oder einfach nicht zugehört. Jetzt brach ihr Interesse durch: Es muß sich etwas ändern. Jetzt oder nie, Demokratie! – hineingerufen in die Helligkeit des anbrechenden Oktoberabends, noch hell genug, erkannt zu werden, einander aus der Nahdistanz voll ins Gesicht zu sehen, dem »Grünen« im Gesicht zu lesen, ob Zweifel darin waren, den Diensthundeführer mit Diensthund (mit Korb) anzustarren, den vermuteten IM (Inoffiziellen Mitarbeiter), den möglichen GMS (Geheimen Mitarbeiter Sicherheit), alle diese Leute, die irgendwie falsch herumstanden mit leeren, verlorenen Gesichtern.

      An diesem 2. Oktober war der Massenruf die Hauptform der Artikulation von Zielen und Absichten. Im Gerufenen brach das Grundinteresse spontan durch, während sich in den zu Hause vorbereiteten Spruchbändern der kommenden Montagsdemonstrationen ein anderes Phänomen vorbereitete: die Massenhegemonie. Das in einzelnen Köpfen Gedachte, das im kleinen Kreis, etwa der Familie, mit Vorsatz Geschriebene verdichtete sich zur Programmatik der Revolution und des Massenwillens. Der 2. Oktober verdeutlichte vor allem den Beteiligten, aber auch den »Organen« den im gegebenen Augenblick erzielten Zugewinn an Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit. Plötzlich war das Land nicht mehr so, wie es gewesen war.

      Unter dem Geläut der Glocken öffneten sich die Kirchentüren. Die gebetsverbrüderte und -verschwesterte Gemeinde drängte hinaus auf den Vorplatz, den ein Bauzaun aus Weißblech, mehr als gesichtshoch,